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Der Drang zur Selbstdarstellung
Selfies – Nichts Neues unter der Sonne
Christa Tamara Kaul | 20.11.2015
Viele meinen, Selfies seien ein Phänomen der Smartphone-Ära.
Stimmt nicht ganz! Selbstbildnisse gibt es schon seit annodunnemals.
Allerdings wurden sie früher mittels anderer Medien präsentiert und
nicht so inflationistisch verbreitet. Und wie fast alles im Leben:
Auch Selbstdarstellungen sind ambivalent. Ihre Bandbreite reicht von
nervtötend hohl bis zu aufschlussreich, ja sogar sinnstiftend.
Kaum ein Ort, an dem man sie heutzutage nicht sieht. Leute,
vornehmlich junge, mit oder ohne Stange, die sich mit dem Rücken zu
Sehenswürdigkeiten landschaftlicher oder architektonischer Art selbst
knipsen. Oder im temporären Schulterschluss mit mehr oder minder
Prominenten ins Smartphoneobjektiv grinsen. Oder gern auch ganz
allein mehr oder minder provozierende Selbstporträts inszenieren. Um
das alles dann im Netz möglichst vielen zu zeigen. Immer nach dem
Motto: ich hier, ich da, ich bin schön, ich bin wichtig, ich ich ich…
In der Entwicklungspsychologie wird das Phänomen längst spöttisch „Me,
myself and I“ genannt. Ist da eine Generation von Ichlingen
herangewachsen? Ja und nein.
Gustave Courbet: „Der Verzweifelte“, 1844/45
„Cogito ergo sum“, hieß es früher einmal. Jetzt gilt eher: „Ich
errege Aufmerksamkeit, also bin ich“. Und das hat seinen Grund. Wir
leben mittlerweile in realen und virtuellen Gemeinschaften, die sich
rund um den Globus erstrecken. Da ist es nicht einfach, in dieser
Masse Mensch aufzufallen, sich in der globalisierten Welt zu
behaupten. Wen aber Tausende oder gar Millionen beachten, indem sie
ihm zuschauen, und sei es um den Preis der kompletten Entblödung, der
kann nicht bedeutungslos sein. Aufmerksamkeit ist deshalb heute eines
der begehrtesten Güter, und zwar sowohl für Einzelne als auch und
erst recht für Unternehmungen kommerzieller Art. Aufmerksamkeit
besitzt in unserer weitgehend digitalisierten Wissensgesellschaft den
Wert, der früher Rohstoffen zukam. Diese Entwicklung prognostizierten
Soziologen wie etwa Richard Sennett, Anthony Giddens oder Ulrich Beck
bereits seit Mitte des letzten Jahrhunderts.
Doch anders als bei Rohstoffen oder Produkten in der
Industriegesellschaft wächst eben der Wert des „Produktes
Selbstdarstellung“ nicht mit der Knappheit des Angebotes. Sondern im
Gegenteil: Erst die massenhafte Verbreitung und Beachtung – etwa eine
möglichst hohe Zahl von Likes und Followers bei Facebook – steigert
den Wert. Und um die Beachtung einer breiten Öffentlichkeit zu
erhaschen, strecken denn Semi-Prominente ihre prall nackte Kehrseite
in die Kamera, schwingen sich Halbwüchsige von Brücken auf fahrende
Züge, und Mädchen posieren auf Gleisen, den sich bereits nähernden
Zug im Hintergrund, immer mit der Absicht, das größtmögliche
Interesse zu wecken. So soll die Welt mich sehen! Selbstvermarktung
eben.
Die allerdings, die Selbstvermarktung, ist grundsätzlich legitim und
keineswegs ein Kind unserer Tage. Selbstreferenz gab es auch in
vergangenen Zeiten und in vielen Formen. Nur waren da die Ansprüche
höher, weil die Ausführung der Darstellung mehr Können erforderte als
heutige Smartphone-Fotos. Was sind Autobiographien und Memoiren denn
anderes als Selbstdarstellungen? Oder die Selbstporträts von Malern?
Man denke an Dürer, Rembrandt oder van Gogh. Oder an das Bild des
Malers Gustave Courbet (oben „Der Verzweifelte“, 1844/45), auf dem er
sich als exzentrischen Bohémien mit wildem Haar und irrem Blick
inszenierte, um Aufmerksamkeit für seine Künstler-Persönlichkeit zu
generieren. Für Selbstzeugnisse dieser Art sind wir heute dankbar.
Ohne sie wäre unsere Kultur, unser Geistesleben ärmer. Denn bei allem
Überflüssigen, das es auch in der Vergangenheit gab: Unendlich vieles
wäre uns an Wissen und Erkenntnissen vorenthalten geblieben, wenn
etwa ein Gaius Julius Cäsar sich im „De Bello Gallico“ nicht selbst
produziert hätte, wenn ein Dostojewski und ein Solschenizyn nicht
Einblicke in ihr Schicksal in den russischen Straflagern gewährt
hätten, wenn eine Anne Frank ihr Tagebuch nicht geschrieben hätte.
Und vor allem: Was wären die Christen ohne die im Neuen Testament
überlieferten Selbstoffenbarungen Jesu? Eines der für Christen wohl
schönsten und wichtigsten aller Selfies findet sich bei Johannes
14:6: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.“ So einfach,
umfassend und wegweisend können „Selfies“ eben auch sein. Und zum
Glück entstehen bisweilen auch heute noch Selbstaussagen, die
Erkenntnisgewinn bieten.
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