Die Gesellschaft des Zorns
Rechtspopulismus im globalen Zeitalter
Christa
Tamara
Kaul
- Juni 2019
Zorn, Wut, Hass – sie haben Hochkonjunktur in
unserer Gesellschaft. Und sie sind ein
ergiebiger Nährboden für den Rechtspopulismus.
Was befördert in Deutschland – und noch stärker
in anderen Ländern – die Neubelebung
längst überwunden geglaubter Nationalismen? In
ihrem Buch „Die Gesellschaft des Zorns“ seziert
die Soziologin Cornelia Koppetsch diese
Entwicklung und bietet überzeugende Erklärungen.
Das Perfide am Rechtspopulismus: Er verfügt über
ein doppelt gefährliches Spaltpotential. Zum
einen und vor allem erweist er sich als Gefahr
für die Demokratie, die in ihrer heutigen Form
von demonstrierenden Wutbürgern bis hin zu
Terroristen als unfähig abgelehnt oder sogar
bekämpft wird. Zum anderen wird der Begriff
bisweilen aber auch missbraucht, um Menschen mit
unliebsamen Meinungen „in die rechte Ecke“ zu
stellen, sie also möglichst mundtot zu machen.
Auch wenn vor einiger Zeit der ehemalige
österreichische Vizekanzler Heinz-Christian
Strache aufgrund von Korruptionsvorwürfen
zurücktreten musste, so heißt das nicht, dass
Strache wegen seiner latent
demokratiefeindlichen Einstellung gehen musste –
die war auch vorher schon bekannt. Er musste
gehen, weil er sich bei deren Umsetzung in die
Tat dumm angestellt hatte. Nicht viel anders
läuft es in Großbritannien, Frankreich oder
Italien und erst recht nicht in Ungarn und
Polen, wo der Rechtspopulismus fröhliche Urständ
feiert. Und in Deutschland? Bei der AfD ist
gemäß den Umfragen kein Schrumpfprozess in
Sicht. Im Gegenteil. Es kommen sogar zunehmend
Fälle von rechtsextremen Terrorismus ans Licht,
wie etwa der Fall des erschossenen
CDU-Politikers Walter Lübcke zeigt. Und warum
das alles?
Rechts- wie Linkspopulismus basieren immer
auf einer Protesthaltung bestimmter
Bevölkerungsgruppen. Damit daraus tatsächlich
bedeutende gesellschafts- und staatsrelevante
Protestbewegungen entstehen, müssen – wie
Koppetsch direkt zu Beginn ihrer Untersuchung
darlegt – drei Faktoren zusammenkommen: Erstens
eine strukturelle Deklassierung wesentlicher
Teile der Bevölkerung; zweitens eine
Legitimationskrise der bestehenden Ordnung (im
hier untersuchten aktuellen Fall die Krise des
progressiven ›Neoliberalismus‹); und drittens
strukturbedrohliche Krisenereignisse, wie in der
jüngeren Vergangenheit etwa die Finanzkrise, die
Bedrohung durch Terror, verschiedene Kriege und
für manche Bevölkerungsgruppen eben auch die
massenhafte Zuwanderung aus dem globalen Süden.
Wenn unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sich
dann aufgrund tatsächlicher oder vermeintlicher
sozialen Benachteiligungen oder
Kränkungserfahrungen zusammenschließen, können
sie sich Geltung weit über den eigenen
Statusverlust hinaus verschaffen und den Kampf
für das Eigene zum Kampf für die Allgemeinheit
überhöhen. So gewinnt der politische Protest
sozial deklassierter oder an den Rand gedrängter
Gruppen allein durch das Zusammenwirken Gewicht
und eine allgemeine Legitimationsgrundlage.
Nun haben wir in Deutschland beim Populismus
von Links durch die 1968-Bewegung und die in
den 1970er und 1980er Jahren folgenden Friedens-
und Frauenbewegungen sowie den RAF-Terrorismus
bereits Erfahrungen gesammelt. Doch
unterschieden sich diese Strömungen vom
aktuellen Rechtspopulismus dadurch, dass sie
vorrangig von sozial aufsteigenden Gruppen
geprägt waren, etwa von jungen Erwachsenen,
Frauen und Homosexuellen. Die strebten einen
gesamtgesellschaftlichen Wertewandel an von
Ordnungswerten hin zu Toleranzwerten, von Fragen
der Ein- und Unterordnung hin zu Fragen
individueller Selbstentfaltung und politischer
Partizipation. Das heißt, die Blick- und
Zielrichtung wiesen in eine neu zu gestaltende
Zukunft.
Anders die Anhänger rechter Bewegungen heute,
deren Gruppierungen quasi Nostalgieparteien
sind. Sie rekrutieren sich überwiegend aus
finanziell keineswegs schlecht gestellten
Gruppen, die jedoch den sozialen Abstieg
befürchten und deren Blick rückwärts in eine
vermeintlich bessere Vergangenheit und zudem
nach unten gerichtet ist, hin zu den aufholenden
Neuankömmlingen, deren tatsächliche oder
vermeintliche Konkurrenz als illegitim empfunden
wird. Sie versuchen nicht, etwas zu gewinnen,
sondern etwas zu verteidigen, haben Angst, etwas
zu verlieren. Dennoch: Für das Aufkeimen des
Rechtspopulismus und einer erneuten
Politisierung und Polarisierung der Gesellschaft
nach jahrzehntelanger „Konsenskultur“ reichen
nach Koppetschs Ansicht weder die
Flüchtlingsströme noch die tatsächlichen oder
vermeintlichen Persönlichkeitsdefizite der
Protestierenden und auch nicht die wachsende
Kluft zwischen armen Verlierern und reichen
Gewinnern der Globalisierung als Erklärungen
aus.
Es ist die Globalisierung selbst in ihrer
ganzen Komplexität als unbewältigter weltweiter
Epochenumbruch, in dem Cornelia Koppetsch
die Ursache sieht. Dieser Umbruch hat
wirtschaftliche, politische oder kulturelle
Grenzöffnungen und Grenzüberschreitungen
herbeigeführt. Seit dem Fall der Mauer bestimmen
nicht mehr zwei ideologisch verfeindete Blöcke
das Weltgeschehen, sondern grenzenlos
operierende Großunternehmen. Durch diese haben
Nationalstaaten einen mehr oder minder großen
Teil ihrer Souveränität verloren, weil sie das
weltweite Geschäft nicht oder allenfalls
begrenzt regulieren könnten – trotz aller
internationalen Abkommen. Dadurch wird es auch
immer schwieriger, befriedigende Lösungen für
soziale Fragen zu finden und den Ansprüchen der
Menschen im Wandel gerecht zu werden. Gerecht
werden heißt, den Aufstieg des
Populismus nicht nur als vorübergehenden
Störfall des Systems zu sehen, sondern ihn als Folge
und „Marker“ eines epochalen Umbruchs zu
verstehen, als „Konterrevolution gegen
Globalisierungs- und
Transnationalisierungsprozesse“, sprich: als
Reaktion auf fundamentalen gesellschaftlichen
Wandel. Und das bedeutet, ihn als umfassende
gesellschaftstheoretische Herausforderung ernst-
und anzunehmen.
Der Wandel generiert einerseits eine
verhältnismäßig kleine globale Oberschicht,
die sich ihm mehr oder minder mühelos angepasst
hat und durch die Welt fliegt oder per
Videokonferenz in allen Ländern mitberät,
mitentscheidet und mitverdient, ohne dass sie
eine globale Verantwortung übernehmen müsste.
Und auch jene jungen – nicht unbedingt reichen –
Wähler, die sich transnational, kosmopolitisch
orientieren, so wie viele Grünen-Sympathisanten
und “Digital Natives“.
Auf der anderen Seite stehen sowohl Menschen
in eher prekären Verhältnissen als auch Teile
der alten bildungsbürgerlich-konservativen
Elite. Die einen können nicht einmal
mehr einen bescheidenem Wohlstand aufbauen, weil der Einfluss von Volksparteien,
Gewerkschaften und Tarifverträgen an den
Landesgrenzen endet und ohnehin schwindet. Die
anderen fürchten Status- und Kontrollverlust.
Das aus der Aufklärung stammende
Gesellschaftsmodell, in dem Individuen in freier
Konkurrenz zueinander stehen, birgt einen
permanenten Konflikt in sich, weil dieses Ideal
individueller Freiheit viele Menschen erfolglos
und damit zutiefst unglücklich und aufbegehrend
zurücklässt. Und so rebellieren auch jene, die
mit dem rasanten Abbau der alten, national
ausgerichteten Industriemoderne hadern, wie eben
Teile der alten bildungsbürgerlich-konservativen
Elite. Nicht etwa Arbeitslosigkeit oder Armut
beunruhigen diese vorrangig, sondern das Gefühl
der Entfremdung, des Betrugs: Die Regeln, nach
denen gespielt wird, sind nicht mehr die
eigenen, sondern werden von oben oder außen
oktroyiert, weshalb man befürchtet, ohne Chance
aus dem Spiel gedrängt zu werden. Auch wenn das
vielfach noch gar nicht so klar erkannt wird, so
wird der Kontrollverlust dennoch gespürt, und es
entwickelt sich vielfach ein unrealistisches
Verlangen nach der Wiederherstellung der
altbekannten nationalgesellschaftlichen Ordnung.
Die Konfliktlinie in der Gesellschaft
verläuft genau hier, zwischen diesen beiden
Bevölkerungsgruppen und ihrem jeweiligen
Zukunftsbild, so Koppetsch. Der
rückwärtsgewandte Rechtspopulismus ist als
komplexe soziale Gegenbewegung gegen die globale
Moderne und als der grundlegende und wahrscheinlich
irreversible Effekt der forcierten
Globalisierung nach 1989 zu verstehen. Und wenn
die Autorin von einem neuen Klassenkampf
spricht, dann argumentiert sie nicht
orthodox-marxistisch, sondern hat ein Ringen um
Meinungsmonopole, die sich unverträglich
gegenüber stehen, im Blick.
Allerdings ist mittlerweile durchaus noch
eine andere, sozusagen dritte Ausrichtung
wahrzunehmen, die einige Elemente der beiden
Konträrpositionen verbindet und sich von anderen
distanziert. Sie rekrutiert sich vor allem aus
jungen Erwachsenen der Mittelschicht, die sich
nicht primär an Verteilungsfragen abarbeiten,
sondern an der »Grammatik der Lebensformen« (Habermas
1981b: 576). Es geht vorrangig darum, den
Einzelnen gegen die Unterwerfung unter die oft
als übermächtig empfundenen gesellschaftlichen
Institutionen zu verteidigen. Die Idee der
Selbstbestimmung und die Verteidigung
subjektiver Handlungsmöglichkeiten wird
hochgehalten, quasi als Keim und Quelle der
postindustriellen Gesellschaftsordnung der
Gegenwart, die durch Netzwerke, Wissen,
lebenslanges Lernen und den Aufstieg des
Individualismus inmitten einer globalen
kosmopolitischen Gemeinschaft geprägt ist. Doch passt auch eine solche Dauerreflexion
und Dauerkritik nicht in das Bild der
Rechtsbewegungen. Die setzen unbedingt auf feste
Strukturen und klare Prinzipien. „Durch
Barrierebildungen sollen vermeintlich sichere
Orte und Räume abgeriegelt und Gefahren aus dem
gesicherten Bereich herausgehalten bzw. gänzlich
aus der Welt geschafft werden. Die Einmauerung
schafft allerdings neue Dilemmata: Je
eingemauerter oder eingezäunter eine
Gemeinschaft ist, als desto feindlicher wird die
Welt außerhalb wahrgenommen, was erneut das
Sicherheitsbedürfnis erhöht, noch höhere Mauern
nötig macht.“ Und weiteren Zorn entfacht und Wut
schürt. Ein aussichtsloser Konflikt?
Wut und Zorn als thymotische Triebmittel,
das propagierte Peter Sloterdijk schon 2006. Es
kann also durchaus die Frage gestellt werden, ob
der aktuelle Zorn – zumindest teilweise –
nicht nur berechtigt ist, sondern darüber hinaus
auch etwas Positives zu bieten hat. Dafür
plädierte Sloterdijk lange vor der aktuellen
Rechtspopulismuswelle in seiner Publikation
„Zorn und Zeit“. Er verwies auf die großen
"Zorninstitutionen" der monotheistischen
Religionen Judentum, Christentum und Islam sowie
auf die Zorn-Ideologien der Aufklärung, etwa den
Freiheitskult der Französischen Revolution mit
seinem Lieblingsinstrument Guillotine und den
Eroberungswahn Napoleons sowie Zorn-Systeme des
20. Jahrhunderts, etwa den Kommunismus.
Allerdings bestätigt die aktuelle Entwicklung
(noch?) nicht die Schlussfolgerung Sloterdijks,
dass nämlich der Bankrott der großen
Zornorganisationen gekommen sei und etwa die
derzeitige Neuauflage des Islam mit seinen
"Zorneinlagen" nichts weiter als ein
provinzielles Possennachspiel, ein
Medienspektakel von schlechten Verlierern der
Geschichte sei. Große Politik geschehe heute
ausschließlich noch im „Modus von
Balanceübungen“.
Das, also der ausschließliche Modus von
Balanceübungen, kann derzeit nicht als sichere
Zukunftsoption wahrgenommen werden. Ziemlich
sicher dagegen ist, dass uns konfliktreiche
Zeiten bevorstehen. „Das muss nicht zwangsläufig
eine schlechte Nachricht sein“, so die Autorin.
Und ganz sicher ist, dass Cornelia Koppetschs
Buch „Gesellschaft des Zorns“ eine der
soziologisch fundiertesten, erhellendsten und
daher beachtenswertesten Untersuchungen zu dem
virulenten Thema Rechtspopulismus ist.
Cornelia Koppetsch: „Die Gesellschaft des
Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“
transcript Verlag, Bielefeld 2019. 282 S., br.,
19,99 €