Arnold Stadler
Komm, gehen wir
Roman
S. Fischer Verlag
ISBN 978-3-10-075127-0
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Arnold Stadler: Komm, gehen wir
Glück, diese eine Idee, mit der man ein Leben lang gestraft ist
Von
Christa
Tamara
Kaul -
2007
Den Anfang
dieses Romans habe ich im ICE von Nürnberg nach Köln gelesen. In der
Zeitschrift der Deutschen Bahn, die das erste Kapitel abgedruckt hatte.
Dabei lag das Buch längst bei mir zu Hause, nur war ich bisher nicht zum
Lesen gekommen. Nun gut, dachte ich nach den ersten Sätzen, eine von
diesen leichten Sommergeschichten, die sich gut am Strand oder im
Liegestuhl im Garten lesen lassen. Nett, aber doch eher belanglos. Doch
dann
tauchte Tante Paula auf, und je mehr sie auftauchte, umso mehr tauchte
ich in die Geschichte ein. Bis ich schließlich am Ende des Anfangs
wusste: Das Buch muss ich zu Ende lesen, und zwar ganz schnell. Noch vor
etlichen anderen Büchern, die zu Hause ebenfalls auf dem Stapel „Ungelesen“
warteten.
Der verstorbenen Tante Paula und ihrer Begeisterung für Capri ist es zu
verdanken, dass Roland und Rosemarie, beide Anfang zwanzig, in den
Semesterferien, wenige Monate vor ihrer Hochzeit, auf diese Insel
fahren, obwohl das Rudi-Schuricke-Sehnsuchtsidyll der Fünfziger 1978,
also in der Blüte der Flower-Power-Ära, keineswegs ein angesagtes Ziel
ihrer Altersgruppe ist. Ein wenig erholen wollen sie sich dort vor den
kommenden Herausforderungen durch Uni und Heirat und schön braun werden.
Da treffen sie an ihrem letzten Urlaubstag, urplötzlich, am Strand mit
Jim zusammen, einem etwa gleichaltrigen, leicht chaotischen Amerikaner
italienischer Abstammung, der sich aufgemacht hat, seinen Wurzeln
nachzuspüren.
Und dieses Zusammentreffen, das durch Jims Bitte um einen Schluck Wasser
ausgelöst wird, ist die Initialzündung eines unwiderstehlichen
Sommerliebesrausches zu dritt, einer verrückten Ménage-à-trois, die
gleich in der folgenden Nacht ihren – einzigen wirklich ungetrübten –
Höhepunkt, also reines Glück, erfährt. Die Erinnerung daran wird alle
drei ihr Leben lang begleiten, ihre weiteren Handlungen beeinflussen.
Sex und Liebe ohne alle Vorbehalte, ganz im propagierten Stil der
Siebziger, auch wenn alle Beteiligten Katholiken sind und sich auch als
solche verstehen. Wobei mit den Betrachtungen zum Katholizismus sogleich
eines der bevorzugten Stadler-Themen eingeführt wird, was im Verlauf der
Geschichte immer wieder eine mal amüsante, mal tiefsinnige, mal
ironische Rolle spielt.
Nach dem unvergleichlich luftig leicht, fern aller gängigen Klischees
präsentierten hetero- homosexuellen Liebesfest auf Capri erfahren wir
etwas über die bisherigen Biographien der drei Hauptpersonen. Die
meisterhaft lakonische, immer wieder mit Aphorismen durchsetzte
Beschreibung des deutschen, italienischen und amerikanischen Alltags
vermittelt psychologische Einblicke, die den Liebesrausch zwar nicht
zwingend begründen können, aber insgesamt doch aufschlussreich sind.
Roland ist zum Beginn der Geschichte Philosophiestudent, nachdem er
zuvor anderes ausprobiert und abgebrochen hat, nämlich ein
Landwirtschaftsstudium und eine Ballettausbildung. Er ist mit Rosemarie
verlobt, einer angehenden Medizinerin mit ausgeprägter Zielstrebigkeit
und Nüchternheit. Jim schließlich hat „irgendetwas, das sich Tourism
Management nannte“ studiert und beruflich bisher schon so ziemlich alles
durchprobiert, ohne eine ausgeprägte Neigung offenbart zu haben.
Doch wie das bei Dreiecksgeschichten so ist, die enden zumindest für
einen Beteiligten, meistens aber für alle gar nicht sonderlich
glücklich. So auch hier. Das Glückspendel scheint zunächst auf die Seite
von Rosemarie und Jim auszuschlagen, und Roland kommt die Rolle des
subtil Leidenden zu. Schließlich möchten Roland und Rosemarie, noch
immer entschlossen zu heiraten, Jim mit nach Freiburg nehmen und machen
auf dem Weg dorthin in Rom Station. Dort werden sie unversehens Zeugen
der Wahl des neuen Papstes Johannes Paul I.. Am Ende von dessen kurzem
Pontifikat aufgrund seines plötzlichen Todes, also schon nach vier
Wochen, geht allerdings auch die Beziehung zwischen Rosemarie und Jim
wieder in die Brüche. Wobei sich Rosemarie damit auseinandersetzen muss,
von Jim schwanger zu sein.
Am Ende wird der sensible Roland, körperlicher Linkshänder und
„Linkshänder im Denken” schließlich Schriftsteller und nennt seinen
ersten Roman, dessen Inhalt in etwa Stadlers Roman gleicht,
„Ungewaschene Erinnerung an die Liebe”. Eigentlich wollte er ihn „Jim“
nennen. Denn die sehnsüchtige Liebe zu dem längst in die USA
Zurückgekehrten hat ihn nie verlassen, und so macht er sich schließlich
1989, mehr als zehn Jahre nach dem ersten Blick und vielen langen
Briefen, die über den Atlantik hin- und hergegangen sind, auf den Weg zu ihm auf.
Dass diese Geschichte streckenweise hinreißend schön, aber niemals
kitschig daherkommt, liegt an der erfrischend, stellenweise geradezu
grandios komischen Stadlerschen Erzählweise. Diese Stilmixtur aus
lakonischer Alltagsweisheit, kindlicher Erzähllust, ergreifender
Traurigkeit, provinzieller Sonderheit und philosophischer
Grundbetrachtung, locker, scheinbar oft unvermittelt und unbefangen,
aber eben doch kalkulierend verwoben, hat ihren unverwechselbaren Reiz.
Allerdings – bisweilen verliert sich dieser Reiz ins zu Breite,
überflüssig Wiederholte. Besonders bei den Kapiteln, in denen Stadler
aus dem Vollen seiner schwäbischen Heimat schöpft und kaum aufhören
kann, noch etwas aufzuzeigen, noch etwas zu karikieren. Dann gleitet die
Sprache auch schon mal vom Eigenwilligen zum Schlampigen.
Gekonnt ist, wie selbst die heißesten Bettszenen ganz ohne die
pathologisch minutiöse oder schmuddelig brünstige Blut- und Hodenmanie
auskommen, die vielfach in zeitgenössischer Literatur ebenso wie im
Regietheater bis zum Überdruss strapaziert wird. Und dennoch erfüllt das
Buch ein
prickelndes Flair. Ein Juwel an wolllüstiger Untertreibung
ist beispielsweise eine Badezimmerszene: „Als Jim dann aus dem Bad mit
seiner Stimme Rowländ! rief, er solle ihm ein Handtuch bringen, und
dann, als er im Bad war, ihn aufforderte, er solle ihn nun abtrocknen,
wollte er noch Nein! sagen, trockne dich doch selbst ab! – Du Schwein!,
hatte er noch sagen wollen. … Das Abtrocknen, eigentlich eine Sache von
einer Minute, zog sich in die Länge, und danach mussten sie noch einmal
duschen und brauchten zwei frische Handtücher. (Was ist lieben? Ist es
ein Tuwort?)“
Und darum geht es schließlich von der ersten bis zur letzten Seite, um
Liebe, um Glück und vor allem um die Sehnsucht danach. Denn ob es Liebe
und Glück tatsächlich gibt, dauerhaft, und ob sie sich womöglich auch
noch bedingen – das ist die Frage (nicht nur) dieses Buches. Stadlers
Beobachtungen, die entsprechende Überlegungen wieder einmal neu beleben,
lassen Zweifel aufkommen. „Vielleicht ist es sogar leichter einen
Liebesroman zu schreiben, als zu lieben. … Auf dem Balkan oder in der
Hohen Tatra oder in der Sierra Madre lief das alles wahrscheinlich
genauso in den Köpfen der Menschen ab, die insofern auf der Welt waren,
als sie vom Glück wussten und so viel mitbekommen hatten, dass sie sich
vorstellen konnten, was Glück war, diese eine Idee, mit der sie ein
Leben lang gestraft waren.“ Das klingt fast wie Tschechow.
„Wir können nicht glücklich sein. Wir sehnen uns nur danach“, lässt er Werschenin in den „Drei Schwestern“ sagen. Das könnten auch Stadlers
Protagonisten sagen, wenn auch ohne die Tschechowsche
Fin-de-siecle-Morbidität. Sie ahnen es eher, als es wirklich
festzustellen. Und bewahren die ewige Sehnsucht nach dem Glück der
Liebe. Schließlich haben sich die Zeiten und die individuellen
Gestaltungsräume geändert, Freizügigkeit und Möglichkeiten der eigenen
Lebensplanung eröffnen fast unendlich viele Alternativen. Ansonsten aber
scheint die Problematik der Glückssuche keiner ästhetischen oder
gesellschaftspolitischen Konjunktur zu unterliegen, sondern
Ewigkeitswert zu besitzen.
Arnold Stadler: Komm, gehen wir. Roman. S. Fischer Verlag. ISBN
978-3-10-075127-0. 18,90 Euro
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