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Peter Stamm:  Agnes

 

Kühle Dramatik, luzide Sprache

Tomogramm einer gescheiterten Liebe

 

 

Von Christa Tamara Kaul

 

 

Wie es ausgehen wird, ist von Anfang an klar. Agnes, eine der beiden Hauptpersonen, wird am Ende der kurzen, traurig-schönen Liebesgeschichte tot sein. Damit ist die Spannung weggenommen vom Ausgang der Handlung und die ganze Aufmerksamkeit des Lesers, unmerklich, auf den Verlauf und die Entwicklung des Geschehens gelenkt, auf das Warum. Warum können diese beiden Menschen, die sich doch offensichtlich tief ineinander verliebt haben, nicht auf Dauer miteinander leben, was hindert sie an ihrem Glück?

 

In der Universitätsbibliothek von Chicago begegnen sie sich zum ersten Mal, der Ich-Erzähler, ein Schweizer Journalist und Sachbuchautor, und Agnes, die junge amerikanische Physikerin, die an ihrer Dissertation schreibt. Er fühlt sich unwiderstehlich von ihr angezogen, ihr leicht rätselhaftes Wesen reizt ihn, es zu ergründen. Da die Faszination gegenseitig ist und sie seine Zuneigung erwidert, dauert es nicht allzu lange, bis sie zusammen ziehen. Sie kommt zu ihm in seine Wohnung, ohne allerdings die ihre aufzugeben. Eine intensive Zeit des verliebten Sich-Erforschens und tastenden Zueinander-Findens im Spannungsfeld zwischen Rausch und Alltäglichkeit beginnt.

 

Sie erkennt in ihm ihre große Liebe, ihre einzige und ihre erste. Aber sie ist es als Grundlagenforscherin der Physik gewohnt, den Dingen auf den Grund gehen, deren weitere Entwicklung, die Konsequenzen und vor allem das Resultat voraussehen zu wollen. Wohl traut sie auch nicht so ganz dem sich anbahnenden Glück. Wie wird es ausgehen, dieses Experiment, ihr gemeinsames Lebensexperiment?  Nachdem sie, eher zufällig, ein paar Geschichten von ihrem Geliebten gelesen hat, drängt Agnes ihn, die Geschichte ihres gemeinsamen Lebens, ihrer Liebe zu schreiben, die "Liebesgeschichte mit dir und mir", und zwar der Wirklichkeit entsprechend und mit der Prognose des Endes. "Schreib eine Geschichte über mich, damit ich weiß, was du von mir hältst."

 

Als in der folgenden krisenreichen Zeit einer Schwangerschaft, die er nicht will und die dann ohne sein Zutun durch eine Fehlgeburt scheitert, Agnes innerlich zutiefst verwundet und aus dem Gleichgewicht geraten ist, gewinnt das von ihm eher beiläufig als eine Art Beziehungstagebuch begonnene Werk zunächst für sie, dann aber auch für ihn an Gewicht und Bedeutung. Agnes hat sich aus der Beziehung heraus in sich selbst zurückgezogen, ist jedoch erfüllt von der Sehnsucht, durch seine Liebe geheilt ins - gemeinsame -  Leben zurück zu kehren. Die Geschichte, die er schreibt, soll Zeugnis geben von einer solchen Liebe und damit Leben spenden, wo das wirkliche Leben Tod brachte: "Du musst es aufschreiben, ... du musst uns das Kind machen. Ich habe es nicht geschafft." In der von ihm zu schreibenden Geschichte sucht sie Zuflucht in seiner Liebe, oder richtiger: sie möchte wissen, ob seine Liebe dafür ausreicht. Er erkennt ihre Suche nach Halt, ihre Kraftlosigkeit, aber auch seine daraus erwachsende Macht: "Jetzt war Agnes mein Geschöpf." Und so bemüht er sich, der literarischen Zukunft ihres Lebens einen glücklichen Ausgang zu geben.

 

Doch schon bald spürt er, eher unbewusst als willentlich, dass sein in die Zukunft reichender Erzählungsverlauf nicht stimmt, wenig mit ihm und Agnes zu tun hat. So schreibt er denn sehr impulsiv in wenigen Nächten, ohne ihr Wissen, die Geschichte mit einen zweiten, ganz anderen Schluss. Mit dem Schluss von Agnes' Freitod. Vielleicht sollte man sagen: Es schreibt sich aus ihm heraus. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Agnes irgendwann diese zweite Version entdecken und lesen und entsprechend handeln wird. 

 

Äußerlich nehmen die Hauptpersonen kaum bzw. gar keine Gestalt an. Er, der Ich-Erzähler, ist ein Mann ohne Aussehen. Nicht ein einziges Mal  werden seine Haar- oder Augenfarbe, seine Größe oder sein Alter erwähnt. Lediglich dass er deutlich älter als Agnes ist, deutet auf einen Enddreißiger hin, und aus der Beschreibung der fiktiven Tochter könnte ein vager Schluss gezogen werden: Die ihr zugeschriebenen dünnen blonden Haare könnten ein Indiz für das Aussehen des Vaters sein. Von Agnes erfahren wir etwas mehr, nämlich dass sie schlank und nicht sehr groß ist, dass sie braune Haare hat, einen blassen Teint und blaue Augen, die sprechen.  So sprechen, als würden sie Worte übermitteln. Ein zartes, verletzliches Wesen, nicht so ganz von dieser betriebsamen, betriebswirtschaftlich orientierten Welt. Eine gewisse Rolle spielen bei ihrer Charakterisierung Stil und Farbe von Kleidung. Doch trotz des Fehlens äußerer Merkmale werden beide dem Leser eigenartig vertraut und präsent, aus der Innenansicht sozusagen. Beide sind sehr moderne Großstadtmenschen, kaum oder gar nicht in Familien- oder Freundesstrukturen eingebunden, keine sehr sozialen Wesen also. Obwohl sie nicht bindungsunfähig sind, kommen dennoch beide auch sehr gut als Alleinstehende zurecht, sind autonom und, besonders Agnes, intellektuell.

 

In der schwebend leichten Erzählweise und Vermischung von tatsächlichem und fiktiven Leben liegt ein großer Reiz dieses Buches. Vordergründig scheint es so, als gewinne über die erfundene Geschichte des Geliebten die Fiktion Macht über Agnes' reales Handeln, als folge sie quasi seinen literarischen Regieanweisungen. Doch in Wahrheit liegen Wert und Gewicht der fiktiven Handlung in der Offenbarung seiner tatsächlichen Gefühle, und zwar für beide. Er wird sich schreibend darüber klar, dass seine Liebe nicht groß und ausschließlich genug ist für sie, nicht ausreicht für ein glückliches Ende. Und Agnes gewinnt dadurch die traurige Gewissheit, dass sie bei ihm nicht finden wird, was sie sucht.

 

Beeindruckend in seiner ebenso klaren wie knappen Prägnanz ist Peter Stamms Sprachstil. Sachlich, präzise, unprätentiös und anscheinend emotionslos, aber keineswegs steril, und dabei fast schwerelos leicht werden selbst dramatische Sachverhalte und tiefe Existenzkrisen dargestellt. Jedes Wort sitzt, keines ist überflüssig. Im Kopf entstehen durchaus Bilder, viele Bilder von großer Klarheit, aber eher Schwarz-weiß-Fotos als farbig fulminante, üppig dekorierte Filmsequenzen. Obwohl auf jegliche verbal-psychologische Erklärungsansätze verzichtet wird, kann sich der/die Leser/in analytisch der Ursachenforschung des Scheiterns dieser Liebesbeziehung widmen. Ein luzides Wortgebäude, das den Einblick in Gefühlstiefen zulässt,  ohne selbst zu analysieren oder gar zu sezieren.

 

 

 

Textauszug: "Das Geheimnisvolle ist die Leere in der Mitte", sagte sie, "das, was man nicht sieht, die Symmetrieachsen." ... 

 

Meine Liebe zu Agnes hatte sich verändert, war nun anders als alles, was ich früher gekannt hatte. Ich fühlte eine fast körperliche Abhängigkeit, hatte das demütigende Gefühl, nur ein halber Mensch zu sein, wenn sie nicht da war. Während ich in früheren Beziehungen immer viel Zeit für mich  alleine beansprucht hatte, konnte ich Agnes nicht oft genug sehen. Seit unserer Wanderung im Park dachte ich dauernd an sie und kam nur noch wirklich zur Ruhe, wenn sie bei mir war und ich sie anschauen, sie berühren konnte. Wenn sie aber bei mir war, fühlte ich mich wie berauscht, und meine ganze Umgebung, die Luft, das Licht , schienen mir schmerzhaft deutlich und nah, und selbst die Zeit wurde konkret und spürbar in ihrem Vergehen. Ich hatte zum erstenmal in meinem Leben das Gefühl, etwas dringe von außen in mich ein, etwas Fremdes, Unverständliches.

Ich begann, Agnes zu beobachten, und merkte erst jetzt, wie wenig ich sie kannte.

 

Autorenportrait: Peter Stamm, Jahrgang 1963, studierte nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Anglistik, Psychologie, Psychopathologie und Wirtschaftsinformatik. Es folgten längere Aufenthalte in Paris, New York und Skandinavien. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor und Journalist. Er verfasste mehrere Hörspiele, ein Theaterstück. Seit 1997 ist er auch als Redakteur für die Literaturzeitschrift "Entwürfe für Literatur" tätig. Peter Stamm lebt in der Schweiz. >> zurück zum Anfang

 

Peter Stamm: Agnes, Roman, 1998, 

Arche Verlag, gebunden, ISBN 3-7160-2245-4

www.arche-verlag.de 

 

 

Peter Stamm: Agnes, Roman, 2000, 

btb bei Goldmann, Taschenbuch, ISBN 3-442-72550

www.randomhouse.de/goldmann/ 

 

 

 

 

 

 

 

© Christa Tamara Kaul