Vivat lingua Latina!
Vom Zauber einer Sprache,
in der sich kaum labern lässt
Von
Christa
Tamara
Kaul - Juni 2007
Über die
faszinierende Geschichte und die Vorzüge einer wunderbaren Sprache, in
der sich kaum labern lässt, berichtet der Altphilologe Wilfried Stroh in
seinem Buch „Latein ist tot, es lebe Latein“. Mit einiger Berechtigung
hätte er sein Werk auch „Erstaunlich lebendig“ betiteln können. Denn für
eine mehrfach tot Gesagte erweist sich Latein noch immer als wundersam vital – und schön.
Qualis dominus, talis et servus, vulgo: Wie der Herr, so ’s Gescherr.
Oder, etwas umformuliert: Wer die Macht, hat das Sagen. Und da das
Imperium Romanum Jahrhunderte lang die Macht hatte, beherrschte Latein
als Lingua Franca auch Jahrhunderte lang die offizielle Kommunikation
fast ganz Europas, dazu weiter Teile Afrikas und Vorderasiens. Selbst im
Nachklang des römischen Staates dominierte Latein noch lange Zeit
weiterhin die Kulturen Europas – und einte sie bis zu einem gewissen
Grad. Was in Vokabular und Grammatik vieler europäischer Sprachen und
auf vielen weiteren Gebieten unverkennbar ist. Und wovon wir noch immer
profitieren.
Und heute? Da haben inzwischen andere machtpolitisch und somit auch
sprachlich das Kommando übernommen – Englisch und später das Anglo-Amerikanische schickten sich etwa ab dem 18. Jahrhundert an, zur
neuen Lingua Franca unserer Zivilisation zu werden. Was dann eben so
nach und nach den Niedergang von Latein als üblichem
Kommunikationsmittel bewirkte. Ist Latein heute also am Ende?
Nein, sagt Wilfried Stroh, ehemaliger Professor für Klassische
Philologie in München. „Das angeblich tote Latein ist in seiner
Geschichte nicht nur einmal gestorben, sondern öfter – freilich um immer
wieder aufzuerstehen und sich, wie der getötete Adonis, wunderbar zu
verjüngen.“ Es ist ein sich wiederholendes Werden und Vergehen, das
Prinzip allen Lebens also, und dieser Prozess könnte sich noch lange
fortsetzen.
Zum Beweis führt Stroh uns durch die über zweitausendjährige
Sprachgeschichte, ebenso unterhaltsam wie kenntnisreich. Beginnend mit
dem Frühlatein, das vor 240 v. Chr. datiert, über Altlatein und das
klassische Latein um die Zeitenwende, also die Zeit Ciceros und Vergils,
bis zum Spätlatein, Mittellatein, Humanistischen Latein und schließlich
dem Neulatein, von etwa dem 17. Jahrhundert bis heute, werden alle
Perioden auf ihre Spezifika durchforstet und erläutert. Mit
beeindruckender Detailkenntnis und vielen Literaturverweisen.
Der Ausdruck lingua mortua, also tote Sprache, tauchte demnach erstmals
im 16. Jahrhundert auf. Doch tatsächlich, so Stroh, stirbt „Latein
seinen ersten und, linguistisch gesehen, entscheidenden Tod schon um die
Zeitenwende, im Zeitalter von Kaiser Augustus. Dieser Tod … entsprang
dem Erlebnis lebendigster Meisterwerke, besonders von Cicero und Vergil,
denen die nunmehr unveränderliche Sprache offenbar ihre Unsterblichkeit
sichern sollte.“ Ein Erstarren in Schönheit also, das vertrackte
„Verweile doch, du bist so schön“. In dieser Form etablierte sich Latein
als universale Weltsprache, nicht zuletzt durch seine Funktion als
„Muttersprache“ der abendländischen Christen. Die Völkerwanderung
brachte dann erneut Leben, also Veränderung in die Sprache, allerdings
nicht unbedingt zu deren Vorteil. Es bildeten sich Vulgärformen heraus,
die zu der Entwicklung der verschiedenen romanischen Sprachen führten.
Im Mittelalter dann der dritte Tod, es „gerinnt zu einer nur noch der
eindeutigen Verständigung dienenden Wissenschaftssprache“. Um dann
schließlich im vierten Sterben, siehe oben, dem Anglo-Amerikanischen als
landläufigem Kommunikationsmittel Platz zu machen.
Als besonders reizvoll erweisen sich Strohs Ausführungen zu Personen
oder Aspekten, die weniger bekannt sind, so wie die über den Jesuiten
Jakob Balde, einen nahezu vergessenen Dichter des 17. Jahrhunderts, ohne
dessen vielgestaltiges, umfangreiches Werk „die Geschichte des Latein um
ein glanzvolles Kapitel ärmer” wäre. Dass ein in ordentlichem
Cicero-Latein 1835 geschriebener Aufsatz einem Trierer Abiturienten
namens Karl Marx zuzuordnen ist, dürfte ebenfalls weitgehend unbekannt
sein. Es bezeugt einmal mehr das Fortleben des Lateinischen zu einer
Zeit und in einem Umfeld, in dem es nicht unbedingt vermutet wird. Dies
sind nur einige einer Fülle von Beispielen, die Stroh als Beleg für die
grandiose Geschichte und Unverwüstlichkeit der alten Weltsprache
zitiert.
Und diese Unverwüstlichkeit beruht, so Strohs These, eben genau auf dem
erwähnten Prinzip des Werdens und Vergehens, welches zu dem Paradoxon
führt, dass Latein gerade deshalb so langlebig, womöglich „unsterblich“
ist, weil es eine „tote“, also keiner Ethnie und keinem Staatsgebilde
zuzuordnende Sprache mehr ist, sondern ein allgemeines, allen
zukommendes Vermächtnis. Und weil, darüber hinaus und vor allem, diese
wunderbare Sprache so signifikante Merkmale hat. Etwa die
Strukturierung, die mehr oder minder dazu zwingt, einerseits das
Wesentliche knapp auszudrücken und andererseits präzise mitzudenken, und
die es schwer macht, zu labern und zu schwafeln, wie der 1939 in
Stuttgart geborene Pastorensohn nachdrücklich betont. „Mancher pompöse
Satz, wenn man ihn ins Lateinische übersetzt, steht so ärmlich da wie
Andersens Kaiser in seinen neuen Kleidern: eripitur persona, manet res –
Die Maske fällt, die Sache bleibt.“
Fast selbstverständlich, dass Stroh zu den Verfechtern des gesprochenen
Lateins gehört; was allerdings für Zeitgenossen nach wie vor die
schwierigste Übung ist. Doch Stroh ist ein Liebender, der das Objekt
seiner Begierde glühend verehrt und, wie so manch anderer Liebender
auch, zum Überschwänglichen neigt. Eben dieser Enthusiasmus hat sowohl
denen, die Latein schon lange lieben, als auch jenen, die diese Sprache
erst besser kennenlernen möchten, ein wunderbares Geschenk beschert,
eine ebenso fundierte wie unterhaltsame Sprach- und Kulturgeschichte
einschließlich Zeittafel, Aussprache-Empfehlungen, aufschlussreichem
Literaturverzeichnis und Register.
O quoties obitum linguae statuere Latinae!
Tot tamen exequiis salva superstes erat.
Immer von Neuem sagen sie tot die lateinische Sprache,
jedes Begräbnis jedoch hat sie gesund überlebt.
Na dann: herzlichen Glückwunsch, Latein – und auf ein noch
langes, langes Leben!