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Wie weit geht die christliche Freiheit?

 

Ewige Wahrheiten oder interpretierbare Zeitzeugnisse

 

 

Christa Tamara Kaul    -    November 2023

 

 

Spätestens seit dem Ende des letzten Jahrhunderts ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Universum ein für unser Vorstellungsvermögen unermessliches Ausmaß hat. In diesem Universum sind unser Sonnensystem und in diesem unsere Erde nur ein extrem winziger, bestenfalls staubkörnchengroßer Teil. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gibt es in den unermesslichen Weiten „dort draußen“ jede Menge anderer Lebewesen. Da stellt sich für Menschen, die an Gott als den Schöpfer des Himmels und der Erde glauben, fast zwangsläufig die Frage: Was für Populationen sind das, und hat sich Gott diesen auch offenbart? Wenn ja, wie? Und: Sind auch diese fremden Wesen unbotmäßig gewesen und mussten durch ein grausames Opfer erlöst werden? Wenn ja, wie und von wem? Wenn aber nicht, warum sind dann ausgerechnet die Menschen so misslungen?

 

 

Foto: AXION - eine temporäre, großflächige Lichtinstallation für einen Wüstenort von den Künstlern Christopher Bauder & KiNK, fotografiert von dem Fotografen Ralph Larmann

 

 

Das klingt für manche vielleicht unangemessen, womöglich sogar blasphemisch. Vor allem aber nach Science Fiction. Und äußerst phantasievoll wurden Teile dieser Thematik in der Literatur auch längst schon aufgegriffen, unter anderem in dem Bestseller „Der Schwarm“ von Frank Schätzing. Doch deshalb ist der Gedankengang noch keineswegs absurd. Er führt vielmehr direkt zu einer essentiellen Frage, die sich in allen Offenbarungsreligionen stellt, ganz besonders aber dem Christentum hinsichtlich der biblischen Schriften: Sind diese Texte in ihrer ursprünglichen, wortwörtlichen Form unverrückbare ewige Wahrheiten? Oder sind es eher in dem jeweiligen historischen und kulturellen Kontext zu sehende Aussagen, also jeweils aktuell zu interpretierende Zeugnisse der Zeit, in der sie verfasst wurden? Was können, sollen, dürfen wir davon glauben?

 

Theologen diskutieren seit Jahrhunderten darüber, wie Gott sich den Menschen offenbart. Klar ist, dass sich das Gottesbild des Neuen Testaments, also das des Christentums, schon deutlich von dem des Alten Testaments unterscheidet und sich auch noch weiterentwickelt hat. Gott ist nicht mehr so sehr der absolutistische Herrscher, dessen Figur stark durch die vorderasiatischen Imperatoren des ersten Jahrtausends v. Ch. geprägt wurde, etwa denen von Persien und Babylon, die die Israeliten im Exil kennen gelernt hatten. Zwar hat sich in den zweitausend Jahren des Christentums, das vorrangig die Liebe und Barmherzigkeit Gottes betont, das Gottesbild also bereits merklich verändert, doch gehen heute viele Theologen noch deutlich weiter. Etwa was das aktive Einwirken Gottes auf das Leben der Menschen anlangt. Etliche von ihnen, wie etwa Christoph Böttigheimer, Fundamentaltheologe an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, betonen zwar eine allgegenwärtige immanente Transzendenz Gottes in der Welt, sehen jedoch ein „interventionistisches“ Eingreifen Gottes in die Welt hinein als nicht realistisch an. Das heißt im Klartext, dass beispielsweise ein Bittgebet keineswegs ein direktes Handeln Gottes bewirkt. Dennoch, so Böttigheimer, muss es nicht wirkungslos bleiben. Zum einen „höre“ Gott als die „transpersonale Wirklichkeit in allem“ die Gebete und Bitten der Menschen. Zum anderen würden sich die Menschen im Gebet ihrerseits in ihrem Denken und Handeln auf die göttliche Transzendenz und die biblischen Vorgaben hin ausrichten und damit vielfach doch Einfluss auf ein veränderndes Geschehen nehmen können. Wobei ein solches selbstwirksames Handeln durchaus als eine Form von Freiheit verstanden werden kann.

 

Einer, der vehement die These vertritt, dass der christliche Glaube und die Idee der Freiheit eng miteinander verbunden seien, ist Magnus Striet, Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg. Sowohl in seinem Buch "Für eine Kirche der Freiheit" (Herder Verlag 2022) als auch in dem zusammen mit Helmut Hoping, ebenfalls Professor in Freiburg, im kontroversen Dialog verfassten Buch "Gott, Freund der Freiheit" (Herder Verlag 2023) betont er, dass die von der Bibel vermittelte Botschaft der Freiheit nicht nur spirituell, sondern durchaus auch politisch und gesellschaftlich verstanden werden kann und soll.

 

Striet diskutiert dabei verschiedene Aspekte der Freiheit, wie etwa die Freiheit des Individuums, die politische Freiheit und die Freiheit in Beziehungen. Gemäß dem christlichen Verständnis des Menschen als einem Ebenbild Gottes komme jedem Menschen eine unveräußerliche Würde und Freiheit zu, die von niemandem eingeschränkt werden dürfe. Wobei er jedoch gleichzeitig betont, dass dies nie eine absolute Verneinung jeglicher Einschränkungen bedeuten könne, sondern dass diese Freiheit immer in einem Bezug zu Verantwortung und Gemeinwohl (= Nächstenliebe) stehen müsse. Damit kommt der christlichen Idee von der Gleichheit aller Menschen vor Gott auch eine politische Bedeutung zu. Und die hat zweifellos mit dazu beigetragen, dass sich im Laufe der Geschichte im christlich geprägten Kulturkreis die verfassten Menschrechte und demokratischen Freiheiten entwickelt haben.

 

Nicht zuletzt diese Entwicklung zeigt, dass das Verständnis der biblischen Texte und erst recht das der kirchlichen Dogmen, also der für die kirchliche Lehre maßgebenden „feststehenden“ Glaubensaussagen, eben zeitabhängig sind. Allerdings scheiden sich besonders bei den Dogmen noch immer die Geister. Während konservative Theologen wie Helmut Hoping der Ansicht sind, dass Glaubenswahrheiten nicht durch demokratische Prozesse festgelegt werden könnten, argumentiert Magnus Striet, die Geschichte zeige eher das Gegenteil, nämlich dass sie schon immer ausgehandelt worden seien. Was Rom einst als endgültig entschieden habe, überzeuge heute selbst einen Teil der Bischöfe nicht mehr. So habe sich die Kirche, um beispielsweise das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes abschwächen zu können, einen gewissen Ausweg aus der Verbindlichkeit der Dogmen geschaffen. Und zwar indem sie sagt, dass es wichtige und weniger zentrale Glaubenssätze gebe, die unterschiedlich verbindlich seien. Ein Beispiel liefern Striet und Hoping anhand der Frage: „Was geschieht mit Kindern, die vor der Taufe sterben?“ Aufgrund der Lehre von der Erbsünde könnten sie nicht erlöst werden, lehrte die Kirche lange Zeit. Doch Papst Benedikt XVI. gab diese Vorstellung öffentlich auf – weil es sich dabei nur um eine weit verbreitete Lehrmeinung (weniger zentral), aber eben keine Glaubenswahrheit (wichtig) gehandelt habe.

 

"Ich möchte klarstellen, dass die katholische Kirche kein fertig geschnürtes Paket an Wahrheit hat, als ob sie ein Händler von Pillen der Wahrheit wäre", so äußerte sich im April dieses Jahres der Vatikan-Ethiker Vincenzo Paglia, Erzbischof und Präsident der Päpstlichen „Akademie für das Leben“, im Rahmen der Diskussion um den assistierten Suizid. Theologische Ideen entwickelten sich im Verlauf der Geschichte und im Dialog mit dem Lehramt sowie den Lebensumständen der Gläubigen, so Paglia. "Ich persönlich würde keinen assistierten Suizid durchführen, aber ich verstehe, dass ein juristischer Kompromiss unter den konkreten Umständen, in denen wir uns befinden, am besten für das Gemeinwohl sein könnte.“ Und daraus folgt: Wenn an das Wissensniveau der jeweiligen Zeit angepasste Überlegungen für einen Themenbereich richtig sind, können sie für andere nicht grundsätzlich falsch sein. Wirklich unerlässlich ist, dass die Botschaft von der Liebe, Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Demut und Vergebung – säkular ausgedrückt: von der Anerkennung der gleichen Rechte aller, dem gegenseitigem Wohlwollen, Bescheidenheit und vorurteilsfreier Hilfsbereitschaft – unangefochten und ungeschmälert im Zentrum der Lehre bleibt. Fast alles andere ist jeweils zeitbedingt interpretierbar.

 

 

Dieser Beitrag erschien auch im ImTeam, Nr. 46, Nov. 2023

 

 

 

 

 

© Christa Tamara Kaul