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Recht und Religion im Islam

 

Betrachtung eines umstrittenen Themas 

 

 

Von Nadjma Yassari

 

 

Als ich am Anfang meiner Tätigkeit am hiesigen Max-Planck-Institut für ausländisches und Internationales Privatrecht war, ergab es sich, dass ich an einer Konferenz teilnahm zum Thema "Das islamische Recht in westlichen Gerichten". Einer der Streitpunkte, der während der Veranstaltung diskutiert wurde, war die Frage, ob es möglich sei, in einem internationalen Vertrag eine Rechtswahl zugunsten des islamischen Rechts zu treffen. In der Hitze des Gefechts meldete sich ein Prof. der Universität Tunis, Prof. Ali Mezghani zu Wort und sagte: "Le droit musulman n'existe pas" das islamische Recht existiert nicht.

 

Ich fragte, Prof. Mezghani, was genau er eigentlich damit gemeint habe, denn seine Aussage entziehe mir mein Forschungsgebiet, und er sagte mir, ich müsse selbst darüber nachdenken und ich würde verstehen. Nun, ich habe nachgedacht und das Ergebnis meiner Reflektionen möchte ich heute präsentieren. Der Satz "Le droit musulman n'existe pas." enthält vier Aussagen auf die ich im einzelnen eingehen möchte. 

 

 Zum einen enthält er eine Aussage zum ISLAM: hier geht es also um den Fragekreis: was ist der Islam? Wie sind seine Glaubenslehren? Was ist seine Botschaft? Was ist seine Verbreitung?

 

  Zum Zweiten findet man eine Aussage zum RECHT: Recht in einem religiösen Kontext, mit dem Fragekreis? Was ist religiöses Recht? Was sind seine Charakteristika? Grenzt es sich von anderen Bereichen wie Moral und Ethik ab? Was sind seine Quellen?

 

   Als Dritter Punkt geht es um die EXISTENZ des Rechts: Wie und durch wen ist das Recht entstanden bzw. entdeckt worden? Wer hat es formuliert oder abgeleitet? Ist es nun Gottes-Recht oder ist es Menschen-Recht?

 

  Und schließlich der vierte Punkt - die Gesamtaussage des Satzes: Existiert denn nun das islamische Recht? Existieren mehrere? Wie stellt sich dieses Recht heute in den islamischen Länder dar? Kann ein Blick auf die Rechtsordnungen islamischer Länder Aufklärung bringen?

 

Vorausschicken möchte ich, dass der Versuch die hier aufgeworfenen Fragen zu beantworten mehrere Semester Vorlesung füllen könnte und dass ich keineswegs abschließend oder vollständig in der mir zur Verfügung stehenden Zeit in die Materie werde eindringen können. Es geht mir vielmehr darum, einige Fragen zu stellen und mit diesen Fragen der Problematik näher zu kommen.

 

Der Islam

Im Jahre 610 beginnen die Offenbarungen, die Mohammad, ein Kaufmann aus Mekka empfängt. "Rezitiere im Namen Deines Herrn, Der erschaffen hat" sagt Gottes Engel Gabriel - so die Überlieferung - und Mohammad spricht ihm nach. So bedeutet auch das arabische Wort "Qur'an" Rezitation. Im Laufe der nächsten 22 Jahre verkündet der Prophet Mohammad zunächst in Mekka und danach in Medina die Lehre von dem einen, unsichtbaren Gott. Der Islam ist keine neue Religion, wie der Qur'an selber betont, sondern setzt das Judentum und das Christentum fort. Der Islam erhebt allerdings den Anspruch, die letzte und universale Gestalt der Religion zu sein, der die reine Form der Religion wieder herstellen soll. Mohammad schließt somit die Reihe der Propheten ab und wird deshalb auch das Siegel der Propheten genannt. 

 

Der Islam ruht auf 5 Säulen: das Glaubensbekenntnis, das rituelle Gebet, die Pilgerfahrt nach Mekka, die Almosensteuer und das Fasten im 10 arabischen Mondmonat Ramadan.

Mohammads Predigten waren revolutionär. An die Stelle der Blutsbande, die für den Gemeinschaftssinn der Stämme und Sippen des vorislamischen Arabien maßgebend waren, stellt er das neue gemeinschaftliche Element der gemeinsamen Religion, und gefährdet mit seiner monotheistischen Lehre das lukrative Geschäft der Mekkaner mit den Pilgern der Naturreligionen.  Zeittafel Im Jahre 622 AD muss er nach Medina emigrieren. Diese Auswanderung, arabisch hejra, ist der Beginn der islamischen Zeitrechnung.

In Medina wird Mohammad Richter und Oberhaupt der kleinen islamischen Gemeinde. Das Recht, das er spricht besteht nicht aus feststehenden Regeln, sondern leitet sich aus den Offenbarung ab.

 

Im Gegensatz zum Christentum, das am Rande des römischen Reiches entstanden ist und die ersten Jahrhunderte seines Bestehens ohne öffentliche Anerkennung zugebracht hat, hat der Islam seit der hejra politisch Erfolg. Mohammad ist politischer Führer, er ist spiritueller Führer und spricht Recht. Dies stellt die einzige Zeit in der islamischen Geschichte dar, in der man von der Einheit von Politik, Religion und Recht sprechen kann. 

 

Der Islam breitete sich ungewöhnlich schnell und weitreichend aus. Hundert Jahre nach dem Tod Mohammads reicht das islamische Reich im Nord Westen bis nach Spanien, im Fernen Osten erreicht es die heutigen Länder, Afghanistan, Pakistan, Indien, bis nach China und Südostasien bis Malaysia und Indonesien.

 

Als Mohammad in Medina ankommt beträgt die Zahl seiner Anhänger 75 Personen. Im 21. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung bekennen sich 1,3 Milliarden Menschen, also etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung zum Islam. Diese Menschen und die Traditionen, denen sie verhaftet sind, haben ihr eigenes Bild des islamischen Glaubens geprägt, und regionale und soziale Faktoren trugen zu einer außergewöhnlichen Vielfalt in der Ausgestaltung der islamischen Religion bei. Einer dieser Faktoren ist das Recht. 

 

II Das Recht

Unsere Ausgangsposition ist die Religion. Wie alle monotheistischen Religionen beinhaltet auch der Islam den Glauben an einen Schöpfer, der durch das Medium von Offenbarer mit dem Menschen, seinem Geschöpf kommuniziert, um ihm den richtigen, daher zum Heil führenden Weg zu weisen. Der Islam/ die Religion nimmt also für sich in Anspruch, neben den Pflichten der Individuen gegenüber Gott auch das Verhältnis der Menschen zueinander zu regeln. Diese Verhaltensvorschriften - moralische und ethische sowie alle Gebote und Verbote, die weltliche Belange berühren haben alle ein gemeinsames Ziel: die Verwirklichung des Willen Gottes auf Erden. Das hat zur Folge, dass idealerweise die Religion den Rahmen festlegt, in dem sich das geistige, gesellschaftliche und soziale Leben der Gläubigen abspielt. Alle Bereiche des sozialen Seins sollen sich an den ethischen Grundlagen der Religion orientieren, um dem Ideal einer moralisch-religiösen Gesellschaft so nah wie möglich zu kommen. 

 

Dabei bilden die heute identifizierbaren sozialen Kategorien von Recht, Moral, Ethik das Ganze der Religion. Werden sie einzeln und isoliert von einander betrachten, so erscheinen sie in einem verfälschten Licht.

 

Das bedeutet nicht, dass es kein juristisches Eigenleben im Islam gibt. Es bedeutet aber, dass der Rechtsbegriff aus der Religion besondere Charakteristiken und Funktionen hat, die ein weltliches, säkulares System nicht hat. Während in säkularen Systemen Veränderungen in der Gesellschaft, Veränderungen im Recht verlangen, ist es Aufgabe des religiösen Rechts die Gesellschaft zu verändern, sie zu erziehen, und ihre Verhaltensweisen derart zu lenken, dass sie diesem unterstellten Willen Gottes entsprechen. Das Recht und die Rechtsordnung sind daher nicht Instrumente im Dienste der Gesellschaft, sondern im Dienste Gottes.

Will man den rein religiösen, theologischen Teil des Glaubens von einem rechtlichen Teil unterscheiden, so kann funktional vorgehen. Die Rolle der Theologie wäre dann, das, woran der Mensch glauben und die Ziele, die er verfolgen soll (etwa Gerechtigkeit, Keuschheit, Bescheidenheit, die fünf Säulen der Religion), zu definieren. Die Rolle des Rechts wäre dann, dem Menschen den Weg zu zeigen, wie diese Ziele verwirklicht werden können. In diesem Sinne ist auch das Wort "Shari'a" zu verstehen, welches in der europäischen Rechtsliteratur oft mit "islamischem Recht" übersetzt wird, im wörtlichen Sinn jedoch "Weg zur Tränke/Quelle" und im übertragenen Sinne bezeichnet Shari'a den Weg, den der Gläubige gehen muss, damit er wieder zur Quelle (Gott) kommt. 

 

Unter der Shari'a darf man sich kein Gesetzeswerk, vergleichbar dem BGB, vorstellen. Shari'a ist vielmehr ein Oberbegriff für die Gesamtheit der dem Menschen auferlegten Handlungsweisen. Ihre primären Quellen sind der Qur'an, dh. die Aufzeichnungen der Offenbarungen, aus der Sicht eines gläubigen Moslems das unmittelbare Diktat Gottes und die sunna; das sind Überlieferungen über die Taten und Worte des Propheten Mohammad.

Daneben gibt es die sekundären Quellen: der Konsens (ijma) der Rechtsgelehrten und die Rechtsfindung durch die Juristen mittels Analogie (qiyas) und Logik (aql).Qur'an und sunna

Der Qur'an ist weder wissenschaftliches Werk noch Gesetzestext. Von den rund 6500 Versen werden etwa 500 als Gesetzesverse bezeichnet, wobei sich der größte Teil mit dem rituellen Recht, wie dem Gebet, den Waschungen oder dem Fasten auseinander setzt.

Aus etwa 80 bis 100 Versen können rechtliche Inhalte entnommen werden. Diese Verse betreffen das Erb-, Straf-, Prozess-, Ehe- und das Kaufrecht, Rechtsbereiche, bei denen ein Regelungsbedarf bestand. Daher die Einführung eines Vermögens- und Erbrechts für die Frauen, den Schutz der Waisen, die Anordnung von Treu und Glauben im Geschäftsverkehr und das Glücksspiel- und Zinsverbot. 

 

Da die Verse vor allem ethische Grundsätze setzen wollen, sehen sie meist von der Anordnung weltlicher Sanktionen völlig ab. Aussagen in der Form "X ist, bei sonstiger Sanktion, verboten oder geboten" sind im Qur'an kaum zu finden. (5 oder 6 Verse) Belohnung oder Strafe erfahren die Menschen erst im Jenseits. 

 

Der Qur'an gibt also keine erschöpfende Antwort auf die zahlreichen Rechtsfragen des täglichen Lebens. Zur Ergänzung und Interpretation des Qur'an wurde die sunna des Propheten, herangezogen. Das sind Sammlungen von Berichten über das Verhalten des Propheten eine Kompilation von Rechtsfällen und vorbildlichen Verhaltensweisen. In die sunna floss aber auch jenes vor-islamische Gewohnheitsrecht ein, dass nicht gegen die Werte und Ordnung der neuen Lehre verstieß und deshalb weiterhin in der Praxis Anwendung fand. (Heute gibt es in der sunnitischen Welt 6 offiziell anerkannte Sammlungen, die als authentisch gelten. Die Schiiten haben ihre eigenen Sammlungen.)

 

Identifiziert man die Shari'a im Wesentlichen mit diesen konstitutiven Texten, so erhält man zunächst den Eindruck großer Geschlossenheit. Aber schon hier ist mehr Spielraum als gedacht: Qur'an und sunna sind vielschichtig, nicht leicht zu verstehen und erlauben eine Vielzahl von Auslegungen. Es ist denn auch ein sinnloses Unterfangen, wollte der Rechtsanwender heute den Fall mit Berührung zum islamischen Recht aus dem Qur'an und der sunna heraus lösen. 

 

Die Anfänge der islamischen Rechtsgeschichte stehen ganz im Zeichen der Auslegung und Ableitung und der Entdeckung des göttlichen Willens in und aus den Quellen.

 

III Existenz des Rechts 

Die Aufgabe, die Verhaltensprinzipien aus der Shari'a zu entdecken, bzw. sie aus den primären Quellen abzuleiten, oblag besonders qualifizierten Spezialisten, die mujtahid genannt werden und die Arbeit, die sie verrichteten, Ijtihad.

 

Ijtihad bedeutet im arabischen "das Bemühen"; im juristischen Sinne geht es darum, eine selbständige Entscheidung zu treffen, um eine Rechtsfrage durch Interpretation der Quellen zu lösen. Die von den Rechtsgelehrten erzielten Erkenntnisse konnten jedoch nicht ohne Weiteres allgemeine Gültigkeit beanspruchen, denn sie waren lediglich Ausdruck der "subjektiven Vermutung" des Rechtsgelehrten. Kam eine Mehrheit der Gelehrten zu dem gleichen Ergebnis, oder fanden gewonnene Einsichten die eindeutige Anerkennung der Mehrheit, steigerte sich die subjektive Vermutung zu sicherem Wissen. Die durch diesen Konsens getragenen Rechtssätze wurden schließlich zur Rechtsquelle erhoben.

Durch die Lehre vom Konsens fanden die Ansichten der jeweils herrschenden akademischen Kreise ihren Ausdruck. Er entwickelte sich zu einem wichtigen Instrument der Anpassung an soziale Veränderungen; und bildet in der Tat die Grundlage vieler Rechtsfiguren, die weder aus dem Qur'an noch aus der sunna hervorgehen. Er war in dem sich rasch ausbreitenden islamischen Reich durchaus ortsgebunden, beschränkt auf den jeweiligen geographischen Einflussbereich. Tatsächlich führten die unterschiedlichen methodischen Ansätze und die vielen unterschiedlichen Auffassungen in den einzelnen Rechtsfragen zu der Ausbildung der Rechtsschulen die, die Auffassungen der jeweiligen Rechtsgelehrten überlieferten und anwendeten. 

 

Die vier bekanntesten sunnitischen Rechtsschulen, die sich trotz Differenzen in rechtlichen und rituellen Fragen als rechtgläubig anerkennen und sich gegenseitig respektieren, sind: die Hanafiten, Gründer Abu-Hanifa (699-767), Verbreitung in Zentralasien, Pakistan, Türkei, Syrien, Jordanien, die Malikiten, Gründer Malik (715-795), Verbreitung in Nord- und Westafrika und dem Sudan, die Shafiiten, Gründer Shafi'i (767-820), Verbreitung in Indonesien und dem Vorderen Orient, und die Hanbaliten, Gründer Ibn Hanbal (780-855), Verbreitung in Saudi-Arabien.

 

Das als vierte Rechtsquelle genannte selbständige Denken der Juristen ist im Grunde nichts anderes als die Anwendung von ijtihad. Nach einem westlichen Verständnis ist es als Methode zu qualifizieren, um Vorschriften abzuleiten, die die Qualität einer Rechtsquelle erlangen. Diese Methode wird bei den Sunniten qiyas (Analogie), bei den Schiiten aql (Vernunft oder Logik) genannt. 

 

So wurde zum Beispiel das Verbot des Genusses von Rebwein auf andere berauschende Getränke, etwa Dattelwein, ausgedehnt, weil sie beide den Verstand trüben und zur Erfüllung der Gebote Gottes unfähig macht. Auch die Strafe für den Konsum von Alkohol ist durch Analogie ermittelt worden: die Strafe ist derjenigen für Meineid nachgebildet, mit der Begründung, dass der Verstand einer betrunkenen Person, ähnlich getrübt sei, wie bei einer Person, die einen Meineid leistet. 

 

Das Ergebnis dieser Deduktionsarbeit wird Fiqh genannt. 

 

Fiqh bedeutet wörtlich das Verstehen oder die Einsicht. Damit wird ausgedrückt, dass es 2 Stufen gibt: zum einen die Shari'a, die   göttlichen Ursprungs ist und in der Offenbarung versteckt. Und das   Fiqh-Recht: das Ergebnis menschlicher, daher fehlbarer Analyse. Eine andere Art, dieses Verhältnis zu umschreiben, ist, Shari'a-Recht als Gottesrecht und Fiqh-Recht als Juristen-recht zu bezeichnen. 

 

Die Fiqh-Werke sind nicht in systematischer Weise nach Sachgegenständen geordnet. Die Diskussion genereller Themen erfolgt vielmehr anhand konkreter Einzelvorschriften, ist also kasuistisch im Sinne eines Case-laws. Die Fiqh-Werke wurden im Laufe der letzten tausend Jahren durch eine Vielzahl von Lehrbüchern, Kommentaren, Monographien und Fatwas (Rechtsgutachten) angereichert. Das Recht blieb jedoch bis zum neunzehnten Jahrhundert unkodifiziert. Die einzelnen Vorschriften mussten in den Werken und Lehrbüchern gesucht werden. Die meisten dieser Werke waren jedoch in einem alten Arabisch geschrieben und den Praktikern des 19. Jahrhunderts nicht vertraut. 

 

IV Kodifikation des Rechts

Erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts kamen Bestrebungen auf, islamisches Recht als positives Recht zu formulieren. Die koloniale Unterwerfung großer Teile der islamischen Welt im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert hatte bereits eine umfangreiche Reformdiskussion ausgelöst. Der Reformbedarf war durch einen Vergleich der Lage der islamischen Welt mit der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Situation in Europa sichtbar geworden. Die ausgebliebene Anpassung der Rechtslage an die Gegebenheiten und Notwendigkeiten der Zeit wurde zwar als wesentliche Ursache für den Niedergang der eigenen Stellung angesehen, gleichzeitig hatten die Kolonialmächte fast die gesamte Region erobert, so dass "innerislamische" Entwicklungen nur noch in wenigen unabhängigen Staaten wie dem osmanischen Reich erfolgen konnten.

 

1. Die Majalla

Tatsächlich ist die erste Sammlung islamischen Rechts die osmanische Majella von 1876. Sie kleidet die islamische Jurisprudenz in ein neues Gewand, nämlich in ein kodifiziertes Gesetzbuch. Dabei kompiliert sie die herkömmlichen islamischen Vorschriften und basiert hauptsächlich auf hanafitischem Recht. Mit der Majella sollte das materielle Recht übersichtlicher und dem Rechtsanwender ein praktikablerer Gesetzestext in die Hand gegeben werden. 

 

2. Kodifikationen in den arabischen Ländern und dem Iran

In den Nachfolgestaaten des osmanischen Reichs, in der arabischen Welt kam es erst mit der Unabhängigkeit in den vierziger und fünfziger Jahren zu einer großen Kodifikationswelle. 1949 trat das ägyptische Zivilgesetzbuch in Kraft, und strahlte gleichsam als Mutterrechtsordnung auf alle arabischen Staaten aus. Die Zivilrechtskodifikationen von Syrien (1949), Libyen (1954), Algerien (1975) und Somalia (1973) beruhen im Wesentlichen auf dem ägyptischen Vorbild; mit Einschränkungen gilt das auch für die Zivilgesetzbücher des Iraks (1951), Jordaniens (1976), Kuwaits (1980) und der Vereinten Arabischen Emirate (1985). Der Iran hatte bereits in den Jahren 1928-35 ein Zivilgesetzbuch erlassen.

Bei diesen Kodifikation stellte sich die Frage, wie und inwieweit die islamischen Vorschriften berücksichtigt werden sollten. Die meisten islamischen Länder haben in ihren Verfassungen den Islam zur Staatsreligion erhoben, manche haben das "Recht der Shari'a" oder "ihre Grundsätze" zu "einer" oder "der" Quelle des Rechts erkoren. Saudi Arabien kennt kein kodifiziertes Privatrecht und beruft sich in seiner Verfassung ausschließlich auf das "Buch Gottes".

 

Dabei bleiben viele Fragen offen. Welches Recht und welche Vorschriften sind eigentlich gemeint? Welche Konsequenzen haben diese Verfassungsnormen für bestehende Vorschriften im nationalen Recht? Gilt das islamische Recht per se oder sind die Verfassungsnormen Auftrag an den Gesetzgeber, islamische Vorschriften zu erlassen? Muss "islamisches Recht" in nationales Recht transformiert werden? Und wenn schließlich der Gesetzgeber aufgerufen ist, islamische Vorschriften zu erlassen, hat er denn auch die Kompetenz, diese wieder zu verändern?

 

Es würde den Rahmen dieses Vortrages sprengen, versuchte man auf all diese Fragen einzugehen. Ich möchte Ihnen jetzt unter Punkt 4 einige Beispiele geben, welche Regelungen in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen islamischer Länder für ein und denselben Sachverhalt gefunden worden sind, jeder mit dem Anspruch islamisch zu sein, um letztlich auch die Frage zu berühren, ob islamisches Recht heute noch existiert oder nicht. 

 

Existiert das Islamische Recht?

Wenn wir uns die Rechtssysteme einiger islamischer Länder, also solcher Länder die mehrheitlich eine islamische Bevölkerung haben ansehen und die Rechtslagen dort vergleichen sehen wir folgendes:

 

Im Bereich des Vermögensrechts:

Es gibt Länder (Rechtsordnungen), die allgemein das Zinsverbot kennen und durchsetzen (Iran, Pakistan) es gibt Länder, die das Zinsverbot nicht durchsetzen (Ägypten) es gibt Länder, die das Nehmen von Zinsen in privatrechtlichen Geschäften ablehnen und in kaufmännischen Transaktionen erlauben (VAE).

 

Sie mögen sagen, dass seien unsensible Themen: Wenden wir uns dem Familierecht zu:

In den meisten islamischen Länder ist Polygamie erlaubt, uneingeschränkt in Saudi Arabien, mit gerichtlicher Genehmigung im Irak, in Syrien kann die Zweitehe für die ersten Frau eine Scheidungsgrundlage geben und in Tunesien ist Polygamie seit 1956 abgeschafft und unter Strafsanktion gestellt. Im Iran, ist nicht nur die Polygamie erlaubt, daher die Eingehung von 4 Dauerehen, sondern es gibt dort eine Besonderheit des schiitischen Rechts: die Möglichkeit der sogenannten Genußehe daher eine Ehe auf Zeit, die mit Fristablauf endet.

In Ägypten wurde Anfang 2000 ein neues Personalstatutgesetz diskutiert, das den Frauen die Möglichkeit geben soll, ohne Einwilligung des Mannes unter Verzicht ihrer vermögensrechtlichen Ansprüche die Scheidung zu begehren. Dieses Gesetz hat so viel Aufruhr erzeugt, wie zuletzt der Fall Abu Zayd der wegen Apostasie von seiner Frau zwangsgeschieden wurde, obwohl die Praxis dieser sogenannten Khol Scheidung zu Zeiten des Propheten erlaubt und praktiziert wurde. 

 

In Malaysia gibt es an der Universität von Kuala Lumpur ein Lehrgang zum islamischen Strafrecht, den zum Curriculum gehört, obwohl das islamische Strafrecht dort nicht in Kraft ist, während in Saudi Arabien die Körperstrafen des islamischen Strafrechts täglich vollstreckt werden.

 

Diese Liste kann mit vielen weiteren Beispielen weiter geführt werden. Die Transformation des islamischen Rechts mit ihren regionalen Variationen und Rechtsschulen in die nationalen Rechtsordnungen islamischer Länder und das Einbinden des Rechts in ein kodifiziertes System, haben dazu geführt, dass  der Begriff "des islamischen Rechts" in Algerien etwas anderes bedeutet als in Pakistan, in Ägypten etwas anderes ist als im Iran. 

 

V Conclusio

Den Islam als faßbare Größe, die Gesellschaften und Menschen zusammenführt und dabei Kunst und Politik, Recht und Wirtschaft von Marokko bis Indonesien so stark geprägt und gestaltet hat, daß man sie als Teil einer Einheit verstehen kann, hat es in dieser Art nie gegeben. Die Muslime sind durch ihr gemeinsames Bekenntnis zum Islam miteinander verbunden. Doch genauso wenig wie es ein einziges Christentum oder ein einziges Judentum gibt, gibt es keinen einzigen Islam. 

 

Dasselbe gilt erst Recht  für das Recht. 

 

Bereits durch die Notwendigkeit der Interpretation und Ableitung mischt sich in das unvergänglich Göttliche die menschliche Analyse, der Pluralismus inhärent ist. Ob man weiterhin von "einem islamischen Recht" sprechen kann, ist mehr als fraglich. Ohne Nuancierung, welche konkreten Vorschriften, welche Rechtsschule, welche Epoche angesprochen sind, bleibt der Begriff "islamisches Recht" sehr vage und unhandlich.

Ersetzt man den Ausdruck "islamisches Recht" durch "Recht der Muslime", kommt vielleicht besser zum Ausdruck, dass es sich um das Recht der Muslime einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaftsordnung handelt. Es spiegelt deren Lebensarten und Bedürfnisse wider. Andererseits deutet der Ausdruck "Recht der Muslime" auf ein von Menschen gestaltetes Recht, welches durchaus fehlbar ist und einem menschlichen Eingriff nicht entzogen werden darf. 

 

Ich weiß, dass ich viele Fragen gestellt und wenige beantwortet habe, aber so wie Prof. Mezghani mich aufforderte mich um Verständnis zu bemühen, hoffe ich Ihnen den einen oder anderen Denkanstoß gegeben zu haben, um die Materie mit einem differenzierten Blick zu betrachten.

 

 

 

 

Dieser Vortrag wurde anlässlich der 54. Jahresversammlung der Max Planck Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften E.V. am 4. Juni 2003 in Hamburg gehalten.

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin. 

 

 

 

 

© Christa Tamara Kaul