Heimat Kirche?
Tanzen auf dem Schlachtfeld
der Gefühle
Christa Tamara Kaul - März
2022
Heimat ist da, wo man sich nicht erklären
muss. Das meinte einst Johann Gottfried Herder.
Wenn die Ansicht des gottesfürchtigen Dichters
und Denkers stimmen sollte, dann ist „die
Kirche“ für immer mehr Mitglieder längst keine
Heimat mehr. Es gibt viel zuviel, was erklärt
und geklärt werden muss. Aufgrund der vielfachen
weltweiten Missbrauchsfälle und deren
systembegünstigter Vertuschung steht die
Institution Kirche vor einem moralischen
Scherbenhaufen. Da trifft es die Definition von
Filmregisseur Edgar Reitz schon deutlich besser,
der mit dem Begriff Heimat ein Schlachtfeld der
Gefühle verbindet.
In der Tat, „die Kirche“ erscheint derzeit als
klerikaler Kriegsschauplatz, Schlachtausgang
offen. Ein Desaster, wie es Kardinal Reinhard
Marx treffend ausdrückte. Das nicht besser wird,
wenn maßgebliche Mitverursacher oder Begünstiger
dieses Desasters weiter in Amt und Würden
gehalten werden oder wieder zurückkehren – wie
etwa seine Eminenz Rainer Maria Kardinal Woelki.
Ja, Christen ganz allgemein und besonders
Katholiken glauben an das Gute und sollen
verzeihen können, auch wenn es schwer fällt, wie
es beispielsweise Spiegel-Autor Markus
Feldenkirchen anlässlich des Fehlverhaltens von
Benedikt XVI: betonte. Doch sie sollen (und
wollen meistens) auch immer für eine Veränderung
zum Besseren eintreten.
„Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das,
was ist, nicht alles.“ Dieser von Theodor W.
Adorno stammende Ausspruch verbindet sich – fast
zwangsläufig – mit Hoffnung. Und die Hoffnung,
also die Möglichkeit einer Veränderung, kann
eine Kraft zum Utopischen wecken (was nicht mit
Utopie zu verwechseln ist), wie Jürgen Manemann
in seinem Buch „Revolutionäres Christentum“
(siehe Kasten unten) meint. „Wir spüren etwas
von dieser Kraft, wenn wir … beginnen,
verkrustete Verhältnisse und Strukturen zum
Tanzen zu bringen. Dazu müssen wir aber selbst
anfangen zu tanzen.“
Zwar zielt Manemanns Aufforderung zum
revolutionierenden Tanzen, d.h. zur „Revolution
für das Leben“ vor allem auf die Rolle des
Christentums bzw. „der Kirche“ als Wegbereiter
einer wirklich partizipativen Lebensgemeinschaft
aller Menschen sowie aller nichtmenschlichen
Lebewesen, also vor allem auf
politisch-gesellschaftliche Strukturen. Denn
hoffen auf Auferstehung, also auf das Reich
Gottes, die Grundüberzeugung des Christentums,
bedeutet nach Ansicht des Autors auch das
Aufstehen für eine neue, bessere diesseitige
Welt – und das heißt Revolte. Denn, so Manemann,
es gibt „keine christliche Hoffnung ohne
Revolte“ und das Hören der Verheißung des
Reiches Gottes befreie ebenso zum Bewahren wie
zum Verändern der Gegenwart, der Welt, der
Schöpfung. An der Zeit wäre also eine „kairós-empfindliche“
Kirche, die gegen die Umweltvergehen von
Konzernen entschiedener vorginge und den Ökozid
als Menschenrechtsverbrechen einstufen würde.
Vor allem den Ökozid und die Klimakrise sollten
die christlichen Kirchen über Konfessionsgrenzen
hinweg zu ihrem Anliegen machen. Wobei zur
Durchsetzung der Ziele auch gewaltfreier ziviler
Ungehorsam ein Mittel der Wahl sein kann und
sollte. Gemäß der Ansicht von Jürgen Habermas,
dass ziviler Ungehorsam ein Widerstand sei, der
„mit den Verfassungsgrundsätzen einer
demokratischen Republik“ im Einklang stehe. Ein
kühnes Ziel!
Doch um einer solchen Rolle vielleicht
irgendwann gerecht werden zu können, muss Kirche
sich erst einmal selbst revolutionieren und –
siehe oben – ihre eigenen verkrusteten
Strukturen zum Tanzen bringen. Da stellt sich
die eher bange Frage: Tanzt denn hier und heute
irgendjemand gegen das verkrustete System mit
seinen teilweise anachronistischen Strukturen
und deren Verfechter an? Nun, so ganz
aussichtslos ist die Lage vielleicht doch nicht.
Immerhin lassen zwei Initiativen bzw.
Aktionsgruppen aktuell eine gewisse Zuversicht
aufkommen: Erstens der Synodale Weg und zweitens
die Gruppe #OutInChurch.
Der Synodale Weg hat auf seiner 3. Versammlung
im Februar in Frankfurt am Main alle vier
Themenbereiche (Gewaltenteilung in der Kirche –
Aufhebung des Pflichtzölibats für Priester – Weiheämter für Frauen – veränderte Sexualmoral –
siehe ImTeam Nr. 42) entscheidend vorangebracht.
Alle Vorlagen sind mit sehr deutlichen Voten
weit über der jeweils erforderlichen
Zweidrittel-Mehrheit verabschiedet worden, so
dass sie in den Synodalforen weiterbearbeitet
werden können. Deshalb ist es gut, dass es nun
auch regelmäßige direkte Kontakte des
Synodalpräsidiums mit dem Sekretariat der
Weltsynode gibt. Aus der internationalen
Vernetzung der Reformgruppen wissen wir, dass
die in Deutschland behandelten Themen auch in
vielen anderen Ländern auf der Tagesordnung
stehen. Der Synodale Weg in Deutschland ist
damit auch ein Dienst an der Weltkirche.
Für viele überraschend hat die Gruppe #OutInChurch
Ende Januar den Durchbruch in die Öffentlichkeit
geschafft, ist sichtbar geworden, indem sie sich
unter dem Hashtag #OutInChurch und in dem Film
„Wie Gott uns schuf“ offenbarte. Mit einer
gelungenen „Choreographie“ bekannten sich 125
hauptamtliche, ehrenamtliche, potentielle und
ehemalige Mitarbeiter/innen der
römisch-katholischen Kirche zu ihrer Identität
als lesbisch, schwul, bi, trans, inter, queer
und non-binär und demonstrierten mit diesem
Auftritt einmal mehr, dass die kirchliche
Sexualmoral am Ende ist. „Die Lehre implodiert,
ein Lehrgebäude bricht zusammen, im dem sich
kaum noch jemand moralisch beheimatet fühlt“,
meinte dazu der Mainzer Theologe Stephan Goertz.
Und das rief in einigen Bistümern auf
Leitungsebene sogar erfreulich positive Resonanz
hervor. Zu diesen Signalen vorsichtiger Hoffnung
gesellte sich zudem die Aktion „Sag’s dem
Papst!“ von Bischof Rolf Steinhäuser aus dem
Erzbistum Köln. Was, alles zusammen genommen,
zeigt, dass es auch zukunftsweisend gehen kann!
Allerdings: Eine wirkliche Aufarbeitung des
skandalösen Missbrauchkomplexes, die den Weg zur
Veränderung des Systems freimachen könnte, ist
der Institution Kirche aus eigener Kraft nicht
mehr zuzutrauen. Das ist die feste Überzeugung
von Pater Klaus Mertes SJ, dem Zeugen der ersten
Stunde – und beileibe nicht nur von ihm, sondern
mittlerweile von der Mehrheit der Bevölkerung.
Und dieses Misstrauen wurde – neben zig anderen
Fällen – erst in diesem Jahr wieder durch das
Auftauchen eines pädophilen Geistlichen aus dem
Bistum Köln im Bistum Wien bestätigt, wo dieser
für einige Zeit erneut sein Priesteramt ausüben
durfte – aufgrund einer zwischenzeitlich
erfolgten „Begnadigung“ durch Rainer Maria Woelki.
"Die Kirche inszeniert sich als Aufklärerin,
aber aus institutionsnarzisstischem Interesse.
Die entscheidende Frage bleibt dabei
unbeantwortet: Wie kann Missbrauch so lange
stattfinden, ohne dass es jemandem auffällt oder
jemand darüber spricht? Und dann landet man eben
bei der Frage nach dem System und bei der großen
Zukunftsaufgabe: Wie durchschaue ich, um es mal
theoretisch zu formulieren, die Grammatik der
Gewalt?“ So fasste es Klaus Mertes SJ in einem
Interview mit der FAZ zusammen. Zur Erinnerung:
Klaus Mertes SJ war bis 2010 Leiter des
Canisius-Kollges in Berlin und deckte dort als
erster in Deutschland kirchliche
Missbrauchsfälle systematisch auf. Damit brachte
er die Skandallawine ins Rollen, so dass nach
und nach landesweit das ganze Elend kirchlichen
Versagens ans Licht kam. Da eine effektive
Aufklärungsarbeit der Kirche also nicht mehr zu
erwarten ist, muss logischerweise staatliches
Eingreifen erfolgen, etwa durch Installation
einer (von den Bischöfen oder anderen
kirchlichen Amtsträgern) unabhängigen
Kommission, etwa durch ein entsprechendes
Pädophilen-Register und die Pflicht zur Abfrage,
um den „Kreislauf des Scheiterns“ zu beenden.
Das ist zwar aufgrund der Rechtslage infolge des
Konkordates schwierig, aber nicht unmöglich. Auf
jeden Fall aber notwendig und vor allem dann
unumgänglich, wenn ein befreiender Neuanfang
kirchlichen Lebens jenseits des zum Teil
anachronistischen Systems gelingen soll.
Heimat Kirche? Für viele gibt es sie nicht mehr.
Doch bei anderen immerhin noch die Sehnsucht
danach. Dennoch stellt sich auch diesen immer
wieder die Frage: Kann man, kann frau noch in
dieser Kirche bleiben, deren teilweise durch
Kirchenrecht und Angst zusammengehaltenes System
jetzt weitgehend kollabiert ist? Im Sommer wird
die neue Mitgliederstatistik veröffentlicht
werden. Und zum ersten Mal in der Geschichte der
Bundesrepublik Deutschland könnte die Zahl der
Christen, die Mitglied in einer der beiden
großen Kirchen sind, weniger als die Hälfte der
Bevölkerung ausmachen. Die Kirchenvolksbewegung
„Wir sind Kirche“ meinte dazu: Wer die langen
Jahre unter Karol Wojtyła/Papst Johannes Paul
II. und Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. in
der Kirche ausgehalten hat, sollte vielleicht
gerade jetzt nicht gehen. Denn der visionäre
Reformkurs des Zweiten Vatikanischen Konzils
habe unter Papst Franziskus immerhin eine
gewisse Chance weitergeführt zu werden – so wie
dies eben nun auf dem Synodalen Weg in
Deutschland geschehen könnte. Und möglicherweise
demnächst auch auf dem Weg der angekündigten
Weltsynode. Es zeichnen sich zumindest einige
praktische und auch theologische Elemente für
eine erneuerte Kirche ab. Und es gilt auch zu
bedenken: Nicht nur die Kleriker, wir alle sind
Kirche! Der Versuch könnte sich lohnen, sie von
unten her zu gestalten, die verkrusteten
Strukturen tanzend zum Einsturz und etliche
ihrer Verfechter zum Absturz zu bringen! Dafür
aber, für einen echten Wandel, braucht es
möglichst viele Engagierte.
Christa Tamara Kaul - März
2022
Jürgen Manemann: Revolutionäres Christentum –
Ein Plädoyer
160 Seiten, transcript Verlag, 2021, ISBN:
978-3-8376-5906-1
Links zum Thema
https://www.synodalerweg.de
https://outinchurch.de
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/katholische-kirche-gott-hat-auch-homosexuelle-geschaffen-17813797.html?premium
https://www.katholisch.de/artikel/33189-missbrauch-mertes-kritisiert-benedikt-xvi-und-papst-franziskus
Nach der Forsa-Umfrage im Auftrag des "Kölner
Stadt-Anzeiger" (18.02.2022) vertreten 82
Prozent der Kirchenmitglieder die Ansicht, dass
Papst Franziskus Kardinal Woelki absetzen
sollte. 92 Prozent meinen, dass Woelki von sich
aus Konsequenzen hätte ziehen und zurücktreten
müssen. Dennoch ist Woelki nach einer
fünfmonatigen Auszeit am 2. März in sein Amt
zurückgekehrt.