Felix Hasler: Neuromythologie – Eine Streitschrift gegen die
Deutungsmacht der Hirnforschung
2012, transcript Verlag, kart.,
22,80 Euro,
ISBN 978-3-8376-1580-7
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Neuromythologie -
Gegen die
weltbildgebende Deutungsmacht
der Hirnforschung
Christa Tamara Kaul -
2013
Keine Frage, die Neurowissenschaften haben in den letzten
Jahrzehnten beeindruckende Erkenntnisse gewonnen und in der
öffentlichen Wahrnehmung einen wahren Triumphzug angetreten. Kaum
eine Forschungsdisziplin will heutzutage noch ohne das Präfix „Neuro“
auskommen – neben der Neurobiologie, Neurophysiologie und
Neuropharmakologie über die Neuropathologie und Neuropsychologie
gibt es mittlerweile auch die Neuroästhetik, Neuroökomomie und
Neurotheologie – um nur einige von vielen zu nennen. Was bisher
fehlte, war die Neuromythologie. Doch diese Lücke kann jetzt als
geschlossen gelten.
Felix Hasler heißt der Mann, promovierter Wissenschaftler und
Wissenschaftsjournalist, der seit Langem in der Hirnforschung tätig
ist und nun mit seiner neuesten Publikation „Neuromythologie“ (1)
diesen Dienst ziemlich umfassend erwiesen hat. Da er unter anderem
zehn Jahre in der Arbeitsgruppe Neuropsychopharmacology und Brain
Imaging an der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, alias
Burghölzli, gearbeitet hat und derzeit an der
Berlin School of Mind and Brain
der Humboldt-Universität in Berlin forscht, weiß er also, wovon er
spricht und schreibt.
Vom Unbewussten zum Alleswissen
"Die Macht des Unbewussten" hieß eine Dokumentation,
die das WDR-Fernsehen Mitte Oktober 2012 ausstrahlte und die mit der
Aussage beworben wurde, dass „über 90 Prozent von allem, was wir
täglich machen, unser Gehirn quasi ohne uns“ erledigt. „Unbewusst,
oft ohne dass wir es merken.“ Zwar wurde denen, die sich schon
länger, wenn auch nicht unbedingt professionell, mit neuronalen
Prozessen befassen, nichts wirklich Überraschendes geboten –
Benjamin Libet
ließ deutlich grüßen – doch wurde immerhin der aktuelle Stand der
Hirnforschung zum Thema Unbewusstes allgemeinverständlich
zusammengefasst und mit teilweise aufschlussreichen Szenen belegt.
Bemerkenswert waren jedoch nicht nur die vorgestellten
Forschungsergebnisse über das Zusammenspiel von Hirnstrukturen,
Transmittern und neuronalen Schaltkreisen hinsichtlich der Lenkung
menschlichen Verhaltens, sondern noch mehr die streckenweise
geradezu euphorisch verkündeten Zukunftsprognosen der conditio
humana. So verkündete ein Allan W. Snyder, immerhin Direktor des
renommierten
Centre
For the Mind in Sydney,
mit großer Begeisterung, dass „wir“ aufgrund des sich abzeichnenden
Forschungsergebnisse, die nicht zuletzt auf einer von ihm
entwickelten nicht-invasiven Hirnstimulation
(non-invasive
brain stimulation)
beruhen, bald in der Lage sein würden, neue Denkmuster zu entfalten,
um dann endlich „Menschen so zu sehen, wie sie wirklich sind“.
Menschen so sehen, „wie sie wirklich sind“? Eine wahrhaft
phänomenale Prophezeiung! Dass Snyder mit seiner nicht-invasiven
Hirnstimulation eine interessante Methode der Hirnmanipulation
entwickelt hat, steht wohl außer Frage. Dass er daraus jedoch den
Schluss zieht, damit Menschen demnächst vollkommen durchschauen zu
können, also – sinnbildlich ausgedrückt – des Pudels Kern endlich
vollständig enträtseln zu können, ist genau dieser minimale Schritt,
der einem Quantensprung von wissenschaftlicher Erkenntnis zu
heilskündender Phantasmagorie gleichkommt. Ein Schritt, der
verantwortungsbewusste Wissenschaft hin zu
wissenschaftsideologischer Exegese befördert, die die Hirnforschung
immer häufiger auf boulevardeskes Terrain abgleiten lässt. Und das
nicht durch auflagen- oder klickzahlengeile Medien, sondern durch
Wissenschaftler selbst.
Das genau ist das Thema, dem sich Hasler in seiner aktuellen
Publikation widmet: Das Sichtbarmachen des schmalen Grates zwischen
wissenschaftlicher Redlichkeit und ideologieverliebten Utopien
jenseits des – wahrscheinlich zu allen Zeiten – Menschenmöglichen.
Ideologieverliebte Utopien, die nicht nur den idealen Nährboden für
Mythenbildung liefern, sondern darüber hinaus auch noch
gewinnbringende Manipulationen anfeuern.
Die Dekade des Gehirns
Den Begriff „Neuroscience“ prägte der amerikanische
Biologe Francis Otto Schmitt, ehemals tätig am Massachusetts Institute of Technology
(MIT). im Jahr 1962,
also erst einige Zeit nach den ersten Versuchen, mit
neuromolekularen Methoden der Funktionalität des Gehirns auf die
Spur zu kommen. Dass die Medien einschließlich einer ganzen Armada
von Fachpublikationen sich heute zuhauf bemühen, uns mittels
Neuro-Neuigkeiten zu erklären, was die Welt im Innersten
zusammenhält – mal mehr, mal weniger kompetent – verdanken wir
jedoch vorrangig dem ehemaligen US-Präsidenten Georg H.W. Bush
(sen.). Seine 1990 ins Leben gerufene
"Dekade des
Gehirns" beschleunigte nicht nur die Forschungsintensität, sondern
erwünschter Maßen auch den öffentlichkeitswirksamem Boom in den
Medien.
Große Hoffnungen waren vor allem auf Entwicklungen gerichtet, die
die Funktionsweise des Gehirns vor allem bei neurogenetischen
Erkrankungen wie Autismus, Morbus Alzheimer, Schlaganfall, Epilepsie
oder Schizophrenie besser zu verstehen und damit auch besser zu
behandeln halfen. Wenn man die Wirkung dieser Initiative allein am
Zuwachs der wissenschaftlichen Publikationen messen wollte, dann war
es wahrlich ein grandioser Erfolg. Laut Joelle Abi-Rached von der
London School of Economics gab es im Jahr 1968 weltweit 2.020
Fachaufsätze zu Struktur und Funktion des Gehirns, im Jahr 1988
waren es schon 11.770 und im Jahr 2008 schließlich 26.500 (2).
Vollständige Rezension auf Anfrage: ctkaul@t-online.de
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