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Der tägliche Mord

 

 

Gewalt in den Medien - Gewalt in der Gesellschaft 

 

 

Von Norbert Schneider  -  2002

 

Am Mittag des 26. April 2002 begeht der 19-jährige Robert Steinhäuser in Erfurt eine unvorstellbare Bluttat. Er tötet 17 Menschen: Lehrer, Schüler, einen Polizisten, sich selbst. Einige Stunden später, in einer Sondersendung des ZDF, äußert sich der Bundesinnenminister zu diesem Amoklauf. Am Ende seines Statements erwähnt Schily, dass man natürlich auch auf das Klima insgesamt achten müsse und wie es entstanden sei. Und dass daran die Medien, speziell das Fernsehen mit seinen zahllosen Gewaltdarstellungen, ein gerüttelt Maß an Schuld habe.

 

Am späteren Abend wird auch der Bundespräsident, freilich sehr vorsichtig, diesen Zusammenhang herstellen. Der ZDF-Moderator kommentiert Schily nicht. Vielleicht wollte er einfach deshalb nichts sagen, weil das ZDF für eine knappe Stunde später in der schon Jahre laufenden Reihe "Der Alte" die Folge "Mord auf Bestellung" angezeigt hat. Hat das eine – die Gewalt in der Gesellschaft – mit dem anderen – der Gewalt in den Medien – wirklich in diesem kausalen Sinne zu tun? Ich werde darauf zurückkommen. 

 

Fürs Erste bleibe ich auf dieser Spur, die ein Titel wie "Mord auf Bestellung" legt: mitten hinein ins volle Fernsehleben, besser: mitten hinein in den Fernsehtod. Mit jahreszeitlich bedingten Höhepunkten. Es ist fast schon ein Ritual, dass sich dpa Jahr für Jahr erst zu Weihnachten und dann zu Ostern die Mühe macht, festzuhalten, welche Mord- und Totschlaggeschichten gewissermaßen als Gegenbesetzung zu den besonderen christlichen Botschaften dieser Feste die Primetime besetzen, also die Zeit, in der die meisten Menschen vor den Geräten sitzen.

 

Doch auch in den langen Zwischenzeiten wird geschlagen und gekratzt, geschossen und geblutet, gebrüllt, erniedrigt und gedemütigt. Auf hohem Niveau und kunstvoll inszeniert durch Regisseure wie Alfred Hitchcock, Brian de Palma oder auch Ridley Scott, aber auch auf dem Niveau von drittklassigen TV-Movies, deren Abspann so rasch durchläuft, dass man, ein Akt wohl schonender Diskretion, den Namen einen Regisseurs gar nicht mehr lesen kann. Und dann erst die nicht fiktionalen Sendungen, Reportagen, Dokumentationen, Nachrichtensendungen! 

 

Auch wenn wir noch lange nicht die US-amerikanischen Verhältnisse haben, in denen Fiktion und Realität in den Bildern und Ereignissen immer näher zusammenrücken – Show, News Show, Reality Show, Fiction –, so bleiben doch auch in der deutschen Spielart Tag für Tag genügend Berichte über Greuel, über Krieg und Terror, über schießende Soldaten und weinende Zivilisten. In seltenen Fällen werden wir sogar Zeugen eines Totschlags, etwa anlässlich eines Berichts aus dem Kongo, etwa am 11. September 2001, als Menschen sich aus dem World Trade Center stürzen. Oder wenn ein Roboter einen schwer verletzten Selbstmordattentäter nach Sprengstoff untersucht und dabei auch über die Erde schleift. Von Gewaltvideos habe ich noch gar nicht gesprochen. Auch nicht von jener Hassindustrie, die sich im Internet offeriert und auf die etwa der Feuilleton-Chef der FAZ, Frank Schirrmacher, am 30. April, ebenso empört wie schuldzuweisend, zu sprechen kommt. 

 

Es ist eine Frage, weshalb Menschen derartige Gewalt einander antun? Eine nicht weniger wichtige Frage ist: Warum schauen sich Menschen das an, was sie sich da antun? Und hinter allem steht, wie der Igel aus der Geschichte, die er mit dem Hasen hat, die Frage nach der Wirkung solcher realer Realitäten und medialer Realitäten. Hat das Folgen, was man erst einmal annehmen darf, aber dann eben: welche? In Verbindung mit welchen andern Faktoren? Und ließe sich derartige Gewalt am Ende vielleicht doch, was ein Reinheitsreflex in uns gelegentlich auslöst, einfach verbieten und damit Schluss und aus? Die Gewaltdebatte ruft stets die Puristen aller Länder auf den Plan, jene, denen ohnehin alles zu lasch und lau ist und die alles von Verboten erwarten.

 

1.

Sie vor allem müssen wir zunächst schwer enttäuschen. Was die reale Gewalt angeht, so gibt es offenbar so etwas wie einen Zwang zur Gewalt, ebenso wohl auch eine Lust zur Gewalt. Immer schon. Unausrottbar. Wir haben es, was die Gewalt betrifft, nicht mit einem neuen Phänomen zu tun, wie man manchmal zu glauben scheint. Gewalt ist immer schon da. Sie ist, was man eine Art von anthropologischer Konstante nennen könnte. Indigenisiert. 

 

Zu den Konstanten der Menschheitsgeschichte gehört aber auch das Erschrecken vor der menschlichen Gewalt. Das Erschrecken darüber, wozu der Mensch dem Menschen gegenüber fähig ist. Es äußert sich allerdings auf durchaus verschiedene Weise. Eine solche Weise ist das geradezu freudige Erschrecken, freudig im Sinne von Bewunderung. Gewalt ist immer auch als Stärke bewundert worden. König wird lange Zeit der physisch Stärkste. Der Gewalttäter ist immer wieder als Held gesehen worden. Als der menschliche Platzhirsch, in dessen Gegenwart die Verhältnisse klar sind. Das Oben und der Rest. Und überdies hilft es zur Ordnung. Der Starke ist zugleich derjenige, an dem die Schwachen sich ausrichten können. Mit Feuer und Schwert, immer gestützt von einem Netzwerk der Bewunderer.

 

Ein Blick in die Geschichte der Völker und ihrer Politik, der Religionen und ihrer Erscheinungsformen fördert unzählige Beispiele für Fälle bewunderter Gewalt zu tage. Römische Kaiser. Fränkische Kreuzritter. Spanische Konquistatoren. Stalinisten. Faschisten. Mafiosi. Terroristen. Gewalt, die man bewundert, setzt Emotionen frei. Emotionen sind sehr stabil, belastbar. Man kann sich ihrer bedienen. Die bewunderten Gewalttäter machen davon reichlich Gebrauch. Das Erschrecken über Gewalt, die Menschen von Menschen angetan wird, äußert sich jedoch auch schon in den frühesten Zeugnissen auf eine entgegengesetzte Weise: Als Widerwillen, als Ekel, als Entsetzen. Hier treffen wir nicht nur Pädagogen, Politiker, Mütter, sondern auch Tierschützer, Pazifisten und Gegner der Todesstrafe. Ich verweise auf die verschiedenen Formen des Pazifismus, auf Kampagnen gegen die Todesstrafe, ganz allgemein auf Albert Schweitzers Bemerkung "Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt". Oder noch berühmter und vollständig zitiert: "Ethik ist Ehrfurcht vor dem Willen zum Leben in mir und außer mir" – was übrigens auch das Leben der Tiere meint. Die ethische Bemühung, so sie denn überhaupt noch ernsthaft stattfindet, kann, wie man etwa bei Richard Rorty nachlesen kann, geradezu fokussiert werden auf eine permanente Reduzierung der Grausamkeit und der Demütigung. Nicht anders ist der ethische Ansatz der Negativen Dialektik von Horkheimer und Adorno zu verstehen. Nicht im Sinne eines Ziels, wohl aber als konkretes Handeln.

 

Beide Reaktionen auf Gewalt, Bewunderung und Abscheu, stehen freilich nicht gleichwertig nebeneinander, gewissermaßen wie Optionen, derer man sich bei Bedarf bedient. Es gibt in den Ländern mit einer Art von Zivilgesellschaft heute einen mindestens theoretischen Konsens in der Auffassung, dass Gewalt ein untaugliches Mittel sei, um Probleme – welche auch immer – zu lösen. Diese Annahme hat z. B. längst Eingang gefunden in das Handeln der Vereinten Nationen. Das ist ein Fortschritt im Vergleich zu früheren Jahrhunderten. Wirklich: ein Fortschritt! Doch die Ächtung – einschließlich der Gewalterlaubnis für den Staat, dem sog. Gewaltmonopol – ist nur die eine und durchaus glänzendere Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass es trotz solcher prinzipiellen Ächtung jede Menge von Gewalt auch in solchen Gesellschaften gibt, die sich für aufgeklärt, für zivilisiert erklären würden. In denen Gewaltlosigkeit fast im Range eines gesellschaftlichen Wertes steht. Wie kommt es dazu, dass der Wertekanon und die Realität nach wie vor so weit auseinander liegen können? 

 

Fast ist man geneigt, das Postulat, dass es auch ohne Gewalt geht, für eine Illusion zu halten und sich auf die griechische Pädagogenregel zu besinnen, dass der nicht geschundene Mensch auch nicht erzogen werden könne. Brauchen Menschen nicht nur Liebe, sondern auch immer wieder die Abreibung? Gibt es eine Gier nach Brutalität? Die Suche nach dem Blutrausch? Sind Sadismus und Masochismus und beide verbunden nur die Spitze eines Eisbergs? Weshalb hat die Gewalt in der Gesellschaft immer wieder eine Chance? Was macht sie bei aller Ächtung so unentbehrlich, so attraktiv? Weshalb lebt auch ihre Bewunderung so rasch wieder auf?

 

2.

Diese interessanten Fragen nach den Momenten in der Gewalt, die nicht tot zu kriegen sind, werden von Kulturwissenschaftlern, von Anthropologen, von Ethnologen, von der forensischen Psychiatrie permanent behandelt und beantwortet und permanent neu gestellt. Ich bin nichts von alledem. Ich nenne diese Gesichtspunkte hier nur, um ganz grob das Feld zu skizzieren, auf dem jenes aus- und eingrenzbare Stück Gewaltdebatte spielt, das mit Medien zu tun hat.

 

3.

Gewalt begegnet mir in den Medien, in ihren Produkten naturgemäß nicht als reale Gewalt, sondern als dargestellte Gewalt – solche mit Realitätsbezug, also von Journalisten aufgenommen und weitergegeben; und solche, die erscheint. Es sind die Terrorszenen aus dem Nahen Osten und die Schläge der Wärter in Oliver Hirschbiegels Kinofilm Das Experiment. Es sind die Ausschreitungen zum und am 1. Mai und die letzten zehn Minuten in dem Film Panic Room. Programmverantwortliche, Zuschauer und sogar Kritiker finden daran zunächst nichts Anstößiges. Dabei müsste mindestens auffallen, dass auch in den Gesellschaften, die Gewalt ächten, die Darstellung von Gewalt keineswegs geächtet ist. Für die Presse gibt es in Deutschland so gut wie keine Beschränkungen. Für das Kino gilt die Spruchpraxis der FSK, die, nicht zuletzt mit Blick auf das, was man "Gewalthaltigkeit" nennt, die Filme in 12-er und 16-Filme klassifiziert. Im Fernsehen gibt es in ihrer Wirkung immer einmal wieder angezweifelte Sendezeitgrenzen. Um die Jugend zu schützen. Und demnächst, wenn alles vollends digital wird, wird es für die einschlägigen Programme eine Vorsperre geben, die den Zugang für Jugendliche verhindern soll. Aber es gibt nur ein Bemühen um Reduzierung des Zugangs. Es gibt kein Gesetz, keine Vorschrift, auch keine Verabredung in eine Richtung, die dies alles erledigen würde, also weder ein Verbot von noch ein Verzicht auf dargestellte Gewalt.

 

Stattdessen: jede Menge Gewalt in allen Medien! Fast kann man einen umgekehrten Eindruck gewinnen. Fast scheint es so, als sei genau in den Gesellschaften, die Gewalt prinzipiell ächten, die mediale Gewalt viel präsenter als in Gesellschaften, in denen Gewalt real präsenter ist als etwa in Deutschland. Für die Mediengesellschaft Deutschland jedenfalls trifft dies wohl zu. Und für vergleichbare Gesellschaften, für  Frankreich, für England, für die USA ebenfalls.

 

Nun wird jeder, der sich für aufgeklärt hält, leicht zustimmen, dass sich die Medien nicht unschuldiger, nicht gewaltfreier geben können, als es die Gesellschaft ist, in der sie agieren. Schon allein die Forderung an die Medien – sie findet sich auch in Gesetzestexten – die Wirklichkeit so gut es geht, zu zeigen, führt dazu, dass Gewalt gezeigt werden muss. Alles andere wäre Manipulation und würde alsbald zu dem bekannten Vorwurf führen, man zeige nur eine heile Welt. Selbst mit Bezug auf Kinder und Jugendliche wäre ein gewaltfreies Programm der untaugliche Versuch, in einem wichtigen Punkt vom Leben abzulenken. Daraus folgt: Nicht der Umstand, dass es Gewalt – ob geächtet oder nicht - nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Fernsehen gibt, ist ein Problem. Ein Problem wäre erstens, wenn es nicht so wäre – doch das ist reine Theorie. Ein Problem ist nun aber zweitens und vor allem die Quantität und die Qualität der gezeigten, der dargestellten Gewalt. 

 

Ein Problem ist die Proportion, ist die Angemessenheit. Und zwar in der erwähnten zweifachen Hinsicht. Angemessenheit in der Menge von Gewalt – gibt es zuviel? Und Angemessenheit in der Art und Weise, wie und warum Gewalt gezeigt wird. Ist sie begründbar?

 

4.

Der eine oder andere wird nun darauf warten, dass ich darstelle, welche Mengen von Gewalthandlungen – fiktionalen wie real geschöpften – die Fernsehprogramme derzeit prägen. So, wie dies der "Spiegel" letzte Woche in Form einer Stichprobe einmal wieder gemacht hat und so wie es viele Untersuchungen über Jahrzehnte hin immer wieder gemacht haben. Ich verzichte darauf. Die Zahlen sind nicht nur nicht mehr ganz frisch. Sie klingen – alt oder neu - stets so beeindruckend wie sie am Ende abstrakt bleiben. Man kann sich etwa unter der Mitteilung, dass  es pro Stunde fünf aggressive Handlungen gibt, so recht nichts vorstellen, wenn man die Handlungen selbst nicht sieht und sie nicht korrellieren kann mit dem, was drum herum passiert.

 

Ich verzichte also auf Daten – ohnehin hat die empirische Sozialforschung die Gewaltdebatte zu lange dominiert und den Blick auf wichtige Fragen verstellt – und belasse es bei der jederzeit belegbaren Feststellung: Gewalt ist ein prägendes Moment in der Abteilung Fiktion so gut wie der in der Abteilung "Darstellung der Wirklichkeit". Sie begegnet uns in nahezu allen Genres und Formaten, vom Sport bis zum Spiel, von der Nachricht bis zum Trailor. Gewalt ist ein mindestens in der Quantität wichtiger Bestandteil eines wichtigen Teils des Fernsehens. 

 

Gewichtet man nun den allgemeinen Befund, dann muss man ergänzen: Gewaltszenen kommen vor allem in Programmen vor, die der Unterhaltung dienen sollen. Daraus darf man den Schluss ziehen: Gewalt unterhält. Ist Futter für die Schaulust. Gewalt kommt vor allem in der  Primetime vor, also in dem Zeitabschnitt, in dem die meisten Zuschauer gemessen werden, zwischen 18.00 und 23.00 Uhr. Auch dies erlaubt Schlüsse. Die Darstellung von Gewalt hat offenbar einen nahezu konstitutiven, jedenfalls einen höchst attraktiven Wert für fiktionale Fernsehprogramme, die sich an die Masse der Zuschauer richten. Gewalt wird gezeigt, Gewalt wird nachgefragt, Gewalt kommt an. Offensichtlich braucht man sie.

 

5.

Unter den vielen Fragen, die einem bei einem solchen Befund durch den Sinn gehen, will ich mich auf fünf beschränken:

- Gibt es zuviel Gewalt im Fernsehen?

- Was macht Gewalt auch im Fernsehen so unverzichtbar? Was macht sie attraktiv?

- Gibt es über den Umstand hinaus, dass Fernsehen die Wirklichkeit nicht übermäßig manipulieren sollte, Gründe, die das Zeigen von

Gewalt rechtfertigen könnten?

- Was bewirken solche Angebote? – eine Frage, die ich tapfer und geradezu trotzig stelle, obwohl niemand bis heute genau sagen kann, was die Wirkung wirklich ist, obwohl diese Frage am Ende doch die einzig wirklich interessante ist. Und schließlich:

- Muss man etwas tun – was kann man tun?

 

Zur ersten Frage: zuviel Gewalt im Fernsehen oder nicht? Generell liegt man nie daneben, wenn man sagt: ja, zuviel. Doch diese Feststellung besagt für sich genommen nichts. Es kommt immer darauf an, zu bestimmen: wieviel zuviel im Verhältnis zur Gewalt in der 

Gesellschaft – immerhin bildet Fernsehen weitgehend Wirklichkeit ab und stellt viel weniger Wirklichkeit her als viele glauben. Doch für dieses Verhältnis fehlt es an vergleichbaren Zahlen. Und zweitens und noch viel wichtiger: zuviel von einer Art von Gewalt, die verzichtbar wäre? Auf beides komme ich noch zu sprechen. Für den Augenblick halte ich fest: ja, es gibt zuviel Gewalt im Fernsehen, zuviel völlig verzichtbarer, durch kein vernünftiges Argument begründbare Gewalt. 

 

Zweitens: Was macht Gewalt so attraktiv und faszinierend – für TV-Veranstalter so gut wie für das Publikum? Ich spekuliere hier nicht besser oder schlechter als andere. Vielleicht ist Gewalt attraktiv, weil Gewalt etwas so fabelhaft Unkompliziertes hat. Weil mit einem Schlag, weil auf einen Schlag alles anders ist. Denken wir nur an Alexander und den gordischen Knoten! Weil es mit Gewalt schnell geht. Gewalt bedient die Ungeduld. Das ist gut in einer Zeit, die keine hat. Weil es direkt geht. Jetzt. Instant. Weil Gewalt eine Situation von einem Augenblick auf den andern ändert. Gewalt ist einfach einfach. Gezeigte Gewalt folgt der aktuellen Wertschätzung der Kurzfristigkeit. Die Gründe, die Motive etwa für einen Mord, für einen Amoklauf mögen komplex sein, gewissermaßen unergründlich. Der Mord selbst ist eine klare Sache. Seine Realität ist leicht lesbar für jeden. Das macht Gewalt womöglich besonders faszinierend in einer Welt, in der das Gefühl zunimmt, dass die Unübersichtlichkeit wächst. Gewalt bedient ein Bedürfnis nach Übersichtlichkeit. Die Sprache mit Worten ist umständlich, undurchsichtig. Was haben Menschen im Sinn, die den Nebensatz pflegen? Die Sprache der Gewalt kennt keine Nebensätze.

 

Der Worte sind genug gewechselt, wir wollen endlich Taten sehen. Und Gewalt im Fernsehen ist leicht zu erkennen, wiederzuerkennen. Das ist wichtig in einem Medium, das nicht zuletzt vom Ritual, vom déjà vú lebt und nicht vom jederzeit unerhört Neuen. Das ist wichtig für ein Medium, das nicht Avantgarde ist, sondern Routinen ausbildet. Gewalt hat einen hohen Wiedererkennungswert. Die Art, wie sie inszeniert  wird, folgt dem Klischee und setzt es neu in die Welt. In gewisser Hinsicht verhält es sich mit der Gewalt wie mit der Pornographie. Es gibt nur ein sehr begrenztes Reservoir an Einstellungen. Die Zahl der denkbaren Bilder ist endlich. Auch in völlig elektronisch erzeugten Filmen wird auf dieselbe altmodische Weise geprügelt wie zu Zeiten von Alan Ladd oder John Wayne.

 

Gewalt ist übrigens, was für ein Massenmedium, das ökonomischen Gesetzen folgt, nützlich ist, in der Darstellung im Fernsehen nicht schichtenspezifisch. Reiche und Arme prügeln sich auf dieselbe Weise. Obwohl du reich bist, musst du früher sterben – fast könnte man darin eine besondere Botschaft des deutschen Sonntagskrimis sehen. Gewalt erfüllt in dieser Befreiung vom Räsonnement und der Kompliziertheit der alltäglichen, kleinen Verhältnisse – die hat der Zuschauer immerfort und jeden Tag! – sie erfüllt in einer Art von Klassenlosigkeit optimal die Sprache, in der ein Massenmedium reden möchte, das die Massen erreichen muss. Diese Sprache sind die Bilder. Scheinbar sonnenklare Bilder. Es ist die Bildersprache. Jeder weiß, was Gewalt konkret ist. Da gibt es nichts zu entschlüsseln. Da muss man nicht studiert haben.

 

Denkt man, und vergisst, dass ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Also am Ende noch komplizierter sein kann als ein Wort. Gedeutet, gelesen, erklärt werden muss. Ein interessanter Gegensatz. Vielleicht ist ein weiteres Moment, das Gewalt faszinierend macht, dies: dass es in der Umgebung von Gewalt nicht nur einfache Alternativen, sondern immer auch oder jedenfalls sehr häufig – man denke an die Helden, die Bewunderten - große Gefühle gibt. Hass zum Beispiel mit dem Mord als Folge. Es ist nur Platz für einen. Eifersucht, die zur Waffe greifen lässt seit Kain und Abel. Man denkt an Sexualität und Gewalt, ein altes, finsteres Paar, das sich immer wieder neu die Falten liften lässt. Fiktion im Kino, aber auch im Fernsehen lebt besonders gut von großen Gefühlen, von der Erfahrung von Grenzen, von Gegensätzen, von Liebe und Hass, Leben und Tod. Das ruft förmlich nach dem Einsatz von Gewalt.

 

Ein nicht unbeträchtliches Quantum von Mediengewalt ist in gewisser Weise nicht nur unverzichtbar, sondern auch unvermeidbar . Gewalt, so zugespitzt sie auch ist, so sehr sie die Gänsehaut erregt, so sehr, dass es für manche schwachen Gemüter zuviel wird – Gewalt leistet einen gewaltigen Beitrag zur Entspannung. Fernsehen selbst ist für viele ein Instrument der Entspannung. Insofern hat es die Gewalt beim Zuschauer gut, sie ist regelrecht privilegiert. Ähnlich übrigens wie der Witz, der in der Pointe entspannt. Auch der Witz mit den Unterabteilungen Humor, Satire, Komödie bringt alles mit, was die Entspannung fördert. Gleiches gilt übrigens für die Musik und bestimmte Sportarten. Doch bleiben wir bei der Gewalt! Ich will für die pure Existenz von TV-Gewalt noch einen Grund erwähnen, der uns mehr und mehr beschäftigen wird. Gewalt ist sehr geeignet, als eine Art von global content gehandelt zu werden – als eine Art von überlokaler, überkultureller Ware, die überall gleichermaßen verstanden und rezipiert werden kann, übrigens wieder ähnlich wie Musik oder Sport. Die Menge der TV-Gewalt ist auch ein Effekt der guten Verkäuflichkeit solcher Produkte. Schon immer galt: Sex sells. Aber eben auch: Violence sells

 

Excurs.

Was an der dargestellten Gewalt so faszinierend sein kann, beschreibt Michel Foucault in seinem schon 1975 erschienen Buch "Überwachen und Strafen", in dem er dem Wandel von der Marter zur Strafe, zur Disziplin nachgeht. Ich zitiere ungekürzt eine längere Passage, jeweils ergänzt um einige Einordnungen: "Die posthume Kundmachung der Verbrechen" – ich füge ein: am Ende des 18. Jahrhunderts – "rechtfertigte die Justiz, verherrlichte aber auch den Verbrecher. Darum haben die Reformer des Strafsystems bald das Verbot der Fliegenden Blätter gefordert. Darum hat man im Volk diesen niedrigen und alltäglichen Heldensagen der Gesetzwidrigkeiten" – ich ergänze: die diese Fliegenden Blätter berichtet haben –" ein so lebhaftes Interesse entgegengebracht. Und darum haben sie ihre Bedeutung verloren, als sich die politische Funktion der im Volk beheimateten Gesetzwidrigkeit" – ich ergänze: nämlich nicht mehr die Beleidigung des Souveräns durch die Marter sichtbar zu machen –" änderte. Und schließlich sind sie verschwunden, als sich eine ganze Literatur des Verbrechens entwickelte" – ich ergänze: die sich heute ins Fernsehen fortgeschrieben hat, als Krimi, als detective story –"Eine Literatur, in der das Verbrechen verherrlicht wird, weil es eine der schönen Künste ist" – ich ergänze: ähnlich hat sich Alfred Hitchcock gegenüber Francois Truffault geäußert – "weil es nur das Werk von Ausnahmenaturen sein kann, weil es die Monstrosität der Starken und der Mächtigen enthüllt, weil auch die Ruchlosigkeit noch ein Privileg ist: vom Schauerroman bis zu Quincey, vom Schloß Otranto bis zu Baudelaire wird das Verbrechen ästhetisch wiedergegeben, verwandelt und annehmbar gemacht. Anscheinend handelt es ich dabei um die Entdeckung der Schönheit und der Größe des Verbrechens; in Wirklichkeit ist es die Behauptung, dass die Größe auch ein Recht auf das Verbrechen hat und dieses sogar zum ausschließlichen Privileg der wirklichen Größe wird. Die schönen Morde sind nichts für die Tagelöhner der Gesetzwidrigkeit. Und die mit Gaboriau einsetzende Kriminalliteratur folgt auf diese erste Verschiebung: durch seine subtilen Schliche, durch seine extrem scharfe Intelligenz erhebt sich der Verbrecher über jeden Verdacht; und der Kampf zwischen zwei reinen Geistern – dem Mörder und dem Detektiv – stellt die wesentliche Auseinandersetzung dar." Ich füge hinzu: man erinnere sich an das "Schweigen der Lämmer". Soweit Foucault. Und für unsere Fragestellung ergibt sich: es ist das agonale Moment, der Kampf zweier reiner Größen, das so sehr fasziniert. Es wäre von Reiz, diesen Ansatz auch am Thema Sport und Sexualität zu überprüfen.

 

Doch ich kehre zurück zu meinem Gedankengang. Medien zeigen seit Homers Ilias und seit Kain und Abel, seit dem antiken Theater Menschen an der Grenze. Die antike Tragödie führt tief in die Bereiche von Mord und Totschlag, von Gattenmord und Inzest, von Herr und Knecht, von Oben und Unten, von Leben und Tod, übrigens auch von Gott und Mensch, zwischen denen in der Antike Gewalt einigermaßen gewöhnlich ist. Man wird diesen Stoffen, die meist auch noch solche sind, die Mythen aufgreifen und deuten und weitererzählen, nicht einfach  mit der Bemerkung entgegentreten können: da sie mit und von Gewalt handeln, sind sie ein Stoff, dessen Verbreitung unterbleiben sollte. Aber wie rechtfertigt man sie – bis heute?

 

Ich komme damit auf einen Punkt der Differenzierung. Es ist eine sehr wichtige Frage, in welchem Kontext Gewalt aufscheint. Was sie zeigen soll. Man darf Morde, wie sie Alfred Hitchcock inszeniert, nicht einem Säuberungsinstinkt opfern. Gewalt in den Medien wie ein Problem zu diskutieren heißt nicht, eine Ausstrahlung der "Vögel" zu verhindern oder sie einfach einmal in die späte Nacht zu verschieben oder "Bonnie und Clyde" auszumustern. Ein derartiger Reinigungsreflex, ein solcher Fundamentalismus verkennt, was heißt: verkennt? – er wäre auf seine Weise ein sublimer Akt der Gewalt. Jetzt gegen Geschichten und gegen Stoffe, die dem Leben sehr nahe stehen oder manchmal sogar das Leben sind

 

Es gab und gibt ja nicht nur Bücherverbrennungen, es gab und gibt auch eine Art von Film- und Fernsehverbrennung, die auslöschen möchte, was hässlich ist. Und Gewalt hat ja nicht immer Größe, sie ist, wenn man sie lange genug auf sich wirken lässt, zumeist sehr hässlich. Diese Art des Umgangs mit Film und Fernsehen verwechselt Analyse mit Ausrottung. Sie würde, wenn man sie akzeptieren würde, das Notwendige und Unverzichtbare und das Unsägliche und Spekulative in einem einzigen Kapitel abhandeln, mit einem einzigen Bade ausschütten. Ein interessanter aktueller Fall ist die Ausstrahlung des Spielfilms "Der Soldat James Ryan" im Fernsehen. Es handelt sich erkennbar um einen Anti-Kriegsfilm. Auch deshalb wurden furchtbare Szenen gedreht, wie sie bei einem Landemanöver beobachtet werden. Unter den Jugendschützern ist nun ein Streit darüber entbrannt, ob man diesen Film schon um 20.15 Uhr ausstrahlen dürfe. Ja, sagten die einen. Man muss den Krieg zeigen, wie er ist. Das hat etwas Abschreckend-Heilsames. Nein, sagten die anderen, das verstört Kinder. Das können sie nicht verarbeiten. Recht haben vermutlich beide. Die Sache wird noch verhandelt. Auch Oliver Stones "Natural Born Killers" ist ein Beispiel für diese Debatte, seit er als eine Vorlage für das Massaker von Littleton genommen wird, seit Oliver Stone von John Grisham, allerdings erfolglos, auf Schadenersatz verklagt wurde.

 

In der Gewaltdebatte aber geht es nicht nur um die unvermeidliche, sondern auch um die unsägliche Gewalt. Unsäglich nenne ich eine Art von Gewalt, die Geschichten oder Geschehnissen aufgepfropft wird, obwohl diese Geschichten und Geschehnisse auch ohne sie plausibel wären. Nicht Shakespeare und die Blutspuren in seinen Königsdramen sind das Problem, sondern Bpictures oder TV-Movies aus der zweiten Liga, denen die Menschen allenfalls deshalb zuschauen, weil sie arm an Handlung und gleichwohl reich an Gewalt sind, einer Gewalt für den Zeitvertreib, einer Gewalt als einer fast willkürlichen Hinzufügung, nicht als Teil der Geschichte, als etwas unbegründet Aufgesetztes. Kurz: Gewalt ohne Kontext. So, wie Sexualität ohne Kontext in aller Regel Pornographie ist, ist Gewalt ohne Kontext eine Obszönität. Natürlich lebt auch diese Art von Gewalt vom Nimbus der Gewalt, die man zeigen muss. Sie lebt von der Behauptung, dasselbe zu sein. Dabei ist sie ein billiger Etikettenschwindel. Man merkt ihn zum Beispiel, wenn man ein Genre mustert, das für Gewalt geradezu prädestiniert scheint: den Western. Ein Beispiel: Indianer, die wir nie zuvor gesehen haben, purzeln erschossen vom Pferd. Das ist Gewalt als Gewürz. Der Showdown in High Noon wirkt ohne seinen Kontext wie eine Szene aus dem Schlachthaus. Als atavistisches Ritual jedoch, in dem der letzte Gang zwischen Gut und Böse inszeniert wird – und das Gute siegt – so gesehen und entschlüsselt ist High Noon ein Lehrstück des Widerstandes gegen Gesetzlosigkeit.

 

Gewalt ohne Kontext, ohne Erklärung ist das kritische Stück der Gewaltdebatte. Die billige Gewalt. Sie ist das Problem. Davon gibt es nicht nur zuviel. Sie ist immer überflüssig. Ich habe damit die Frage, ob es Gründe gibt, Gewalt zu zeigen, schon halbwegs beantwortet. Ich habe dies bejaht mit der Feststellung, dass man unterscheiden muss und auch kann, ob es sich um spekulative, um willkürliche, um unmotivierte Gewalt, um Gewalt als ein Genussmittel oder ob es sich um eine Art von Gewalt handelt, die konstitutiv für eine Geschichte ist. Damit ist allerdings erst die Gewalt gerechtfertigt. Noch nicht die Geschichte. Auch sie braucht Plausibilität.

 

Diese Einordnung gilt gleichermaßen für das Zeigen von nicht-fiktionaler Gewalt, also für journalistische Genres. Wer über den Krieg berichtet, muss den Krieg auch zeigen. Dass dazu im Einzelfall ein hohes Maß an Sensibilität den Opfern gegenüber gehört, ist richtig. Das gilt auch für Verbrechen. Oder für die Reportage über eine Hinrichtung. Es gab die Absicht, die Hinrichtung des Terroristen McVeigh aus Oklahoma vor einem Jahr im Fernsehen zu zeigen Es ist nicht dazu gekommen. In Deutschland hätten wir dies untersagt. Freilich: was kontextfreie, was überflüssige Gewalt ist, ist natürlich so klar nicht, wie ich es beim Sortieren am grünen Tisch scheint. Darüber gibt es Streit. Die Gewaltdebatte ist, wenn sie denn allmählich in Gang gekommen ist, in aller Regel beherrscht vom Streit darüber, was überflüssig und was akzeptabel oder gar notwendig ist. 

 

Die Positionen,  die hier vertreten werden, sind, wie auch sonst im Leben, gekennzeichnet von Interessen. Kennt man sie, dann kennt man in der Regel auch das Ergebnis des Streits. Doch weshalb kommt es überhaupt zum Streit? Warum regt sich der eine so auf über das Unsägliche? Warum erkennt er nicht, das sich auch unsägliche Gewalt versendet? Er regt sich auf, weil er die Wirkung im Auge hat, nicht die auf ihn übrigens, er ist in der Regel ein ganz Immuner, sondern die auf andere. Oder, weil er nun wirklich für andere denkt, vor allem für Kinder eine besondere Verantwortung trägt oder den gesellschaftlichen Effekt ernst nimmt. Entsprechend ist die Diskussion über die unsägliche Gewalt meist mit ähnlichen Berufen besetzt: Pädagogen, Politiker und die unvermeidlichen empirischen Medienwissenschaftler, für die nur zählt, was man auch zählen kann. 

 

Wenden wir uns also der Frage nach der Wirkung zu, also der eigentlich spannenden Frage, wenn von Gewalt im Fernsehen die Rede ist. Es gibt nicht viele Fragen, die in der Medien- und Sozialwissenschaft mit solcher Leidenschaft und zugleich bis heute auf einer Grundlage von so wenig belastbaren Argumenten und Daten geführt worden ist. Berühmt wurde zum Beispiel die Hypothese von der reinigenden Kraft der Gewaltdarstellung. Man nennt sie auch die Katharsis-Hypothese. Mit ihr wurde behauptet, dass Zuschauer, die Gewalt konsumieren, ihre eigenen Gewaltpotentiale in einem solchen Schauakt gewissermaßen auflösen würden. Sie fahren die Gewalt ab – nicht in die Realität, sondern in die Fiktion. Die Grundidee folgt dem, was die griechische Tragödie als Katharsis ihrer Zuschauer im Auge gehabt hat, die Reinigung, die Läuterung. Was man gewissermaßen fiktional hinter sich bringt, muss man real nicht leisten – das ist die etwas vergröberte Botschaft, die von dieser Hypothese ausgeht. Sie hat eine populäre Analogie in der immer wieder geäußerten Auffassung, die Kriege von heute fänden in den Sportstadien statt – dort breche sich die Aggression Bahn, halbwegs domestiziert und nur gelegentlich entgleisend. Und

mache Kriege überflüssig. 

 

Dieses Argument hat zweifellos Momente der Verniedlichung an sich. Man muss nur die Opfer von Hooligans fragen. Ich halte nicht besonders viel von dieser Hypothese, obwohl sie von durchaus renommierten Wissenschaftlern ins Spiel gebracht worden ist. Ihren wesentlichen Mangel sehe ich darin, dass sie von vornherein eine festliegende Quantität von Gewalt, ein fixiertes Quantum unterstellt, das man entweder auf diese oder auf jene Weise abarbeitet, fiktional oder real. Es ist ein sehr statisches Verständnis von Aggression im Spiel, die man wie eine Explosion abfährt, gewissermaßen abfackelt – und dann ist Ruhe. Sicher gibt es solche Phänomene und sogar einzelne Fälle von Spannung und Entladung. Aber doch überwiegend in der Natur. Im Gewitter. Es wäre zuletzt doch merkwürdig, wenn der Mensch ähnlich ans Werk ginge. Wenn er ähnlich funktionieren würde. Der Mensch lebt anders. Jedenfalls nicht natürlich. 

 

Das ungefähre Gegenteil dieser Katharsis-Hypothese bietet die Hypothese von der Imitation. Sie unterstellt, dass fiktionale, mediale Gewalt erst dort zu sich selbst kommt, wo der Zuschauer sie real umsetzt, nachahmt. Dies ist die gängige, geradezu volkstümliche – populäre wie populistische – Anschauung über den im Grunde monokausalen Wirkprozess medialer Gewalt. Sie bekommt immer wieder Nahrung, wenn spektakuläre Verbrechen unter ausdrücklichem Bezug der Täter auf mediale Gewalt begangen werden. "Ich habe das im Fernsehen gesehen", sagen sie und lösen damit einen öffentlichen Reflex aus, der heißt: Haben wir das nicht immer schon gesagt! Schafft das Fernsehen ab! Auch diese Hypothese halte ich für nicht überzeugend. Dabei halte ich nicht den Faktor Nachahmung für das Problem. Nachahmung wird es im auch im Kontext von Gewaltdarstellungen im Fernsehen in einem Umfang geben, wie es sie auch sonst gibt. 

 

Die Berufung auf Vorbilder ist wohlfeil. Alles, was es gibt, findet irgendwann Nachahmung. Positives ebenso wie Negatives. Aber es ist absurd zu behaupten, Fernsehen stimuliere geradezu zur Gewalt, fördere das einzelne Verbrechen. Man müsste dann Ähnliches vom Straßenverkehr sagen oder vom Leben auf dem Schulhof. Aus guten Gründen ist bisher noch niemand auf solche Ideen gekommen. Eher macht die Imitationshypothese Sinn, wenn man sie auf den Kopf stellt. Fernsehen imitiert die Wirklichkeit, greift sich – die Autoren tun dies – Geschichten und Macharten, die in der Gesellschaft vorkommen und Interesse finden. Viele Fernsehspiele haben einen realen Kern. Doch auch hier gilt: die Transformation von der Wirklichkeit ins Medium folgt nicht dem Gedanken der Abbildung. Das würde schon daran seine Grenze finden, dass Fernsehen immer verkürzen muss. Wichtiger und weiterführend erscheint mir eine Überlegung, die auf die Annahme einer 1:1-Anwendung, in beiden Richtungen, verzichtet und sich stattdessen, vorsichtiger, mit der Frage befasst, ob es so etwas wie ein fernsehgestütztes Klima für Gewalt geben könnte.

 

Damit komme ich zu der dritten Hypothese, die eine Rolle spielt, zur Verstärkungstheorie. Sie unterstellt, dass viel Gewalt im Fernsehen auch die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft beeinflusst. Wobei allerdings auch immer das Umgekehrte gilt. An dieser Theorie ist insofern etwas Überzeugendes, als sie sich im Kontext der Annahme bewegt, dass Fernsehen bei der Ausbildung und Stützung von Werten, Haltungen, Moden und Trends, im agenda setting, eine wichtige Rolle spielt. Diese Annahme ist weithin unstrittig und sie gilt selbstverständlich nicht nur für Musikstile oder die Inszenierung von Politik, sie gilt auch für den Bereich der Gewaltdarstellung. 

 

Wenn Gewalt gewöhnlich und normal wird, wenn einem geradezu etwas fehlt, wenn sie nicht zu sehen ist, dann darf man vermuten, dass dies Einfluss auf einen Grundbestand an Einschätzungen hat, die Zuschauer bei sich nach und nach bilden, nicht von heute auf morgen, sondern langfristig, nicht von einem Film unmittelbar in die Realität, sondern auf Umwegen, abgeschwächt, verbunden mit anderen Haltungen und Einschätzungen. Wenn mir fortgesetzt vorgespielt wird, dass der Starke die Dinge zu seinen Gunsten entscheidet, weil er notfalls zuschlagen kann, dann wird das auf Dauer eine Rolle spielen auch für mich. Wenn mir gezeigt wird, dass der Gewalttäter mehr Aufmerksamkeit findet als seine Opfer – ein fataler Trend übrigens –, dann darf man sich nicht wundern, wenn Täter so prominent und vorbildhaft werden wie Stars und andere Fixsterne, an denen sich eine Gesellschaft ausrichtet. Wenn Gewalt als cool  konnotiert wird, wird dies auch Einfluss auf die Haltung solcher Jugendlicher nehmen, denen daran liegt, cool zu sein, cool zu empfinden. 

 

Verstärkung zeigt sich auch in anderen Punkten. Vielseher zum Beispiel sind, so weisen es Untersuchungen aus, in der Regel ängstlicher als Menschen, die kaum fernsehen. Und gewaltbereiter. Die neueste US-amerikanische Untersuchung, über die "Science" in diesen Tagen berichtet hat – sie hat ihre Testpersonen immerhin 17 Jahre beobachtet –, geht in diese Richtung. Fernsehen als solches und noch vor aller Gewalt macht offensichtlich im Dauerselbstversuch aggressiv. Doch man kann die Dinge auch auf den Kopf stellen – oder auf die Füße: aggressive Menschen, so sagen die Kritiker dieser Studie, neigen zu besonders ausgreifendem TV-Konsum. Ein Henne-Ei-Problem liegt auf jeden Fall vor, in der Regel ein Indiz dafür, dass ein kompliziertes Feedback-System in einer black box wirksam wird. Verstärkung spielt vor allem eine Rolle beim agenda setting. Je mehr Gewalt, desto mehr der Eindruck, man lebe in einer gewalthaltigen Welt und man löse die Probleme am besten auf gewaltsame Weise. Das mag dann ein Moment werden, das im Kontext von Amokschützen herangezogen werden darf. Doch auch da geht es nicht geradewegs von der Ursache zur Wirkung. Alle monokausalen Betrachtungen verkennen die Spezifika der  medialen Kommunikation. Der Verzögerungseffekt. Das Kontextproblem. Die Kraft der Bilder. Den Rückkanal. Man könnte geradezu von einem Dauer-feed-back in einer black box sprechen. Es ist trotz aller Forschungen in diese Richtung immer noch viel zu wenig bekannt darüber, wie Wirkung sich aufbaut. Welche individuellen Faktoren sich auswirken, weil es empirisch gesehen beim einen offenbar wirkt und bei der anderen nicht. Sicher ist nur: im Kontext einer bestimmten Agenda fügen sich Dinge zu neuen Bildern und Einstellungen, die zu Beginn ihrer jeweiligen Karriere nichts miteinander zu tun hatten. 

 

6.

Und schließlich – die Frage der Politiker und der Therapeuten nach der Diagnose – was ist zu tun? Das beste Mittel gegen vermutbare Risiken und Folgen jeder Art von Gewaltdarstellung, der plausiblen wie der kontextfreien, ist die Kompetenz, zu durchschauen, was sich abspielt. Auch wenn man das Wort in die Inflation geredet hat: Medienkompetenz also. Die Gewaltdebatte mündet daher, wenn sie redlich und vernünftig läuft, früher oder später in eine Bildungsdebatte: in die Frage nach den Wirkweisen von Bildern, den Effekten einer Dramaturgie, den Ikonen eines Massenmediums. 

 

Man muss diese Faktoren und ihr Zusammenspiel lesen, man muss sie als Zuschauer lesen und entschlüsseln können. Man darf den Bildern, die mehr sagen als tausend Worte, nicht auf den Leim gehen. Man muss die Suggestion gelegentlich durchbrechen, mindestens ab und zu innehalten und sich vergewissern, was da gespielt wird, ja: was gespielt wird. Man muss sich um die Mittel der Inszenierung kümmern. Um die Ästhetik der Bilder. Das kann man lernen. Dafür gibt es Lehrer, so wie es Lehrer gibt, die einem sagen können, wie ein Werbespot funktioniert. Nicht zu viele Lehrer, das ist richtig, aber immer mehr. Mit diesem Lernen muss man früh anfangen. Im Kindergarten am besten, in der Vorschule, und es braucht Einrichtungen, die auch Eltern erklären, was sie ihren Kindern erklären könnten, wenn sie denn dazu überhaupt willens und in der Lage sind. Gefahren beschwören ist nicht einmal die Hälfte der Strecke. Man muss sie bekämpfen, und das tut man am  besten durch Aufklärung.

 

Ich will damit nicht sagen: jeder Krimi, den man sich ansieht, wird anschließend seziert, auseinandergenommen, analysiert, solange, bis einem jede Lust vergeht, je noch einmal einen Krimi zu sehen. Fernsehen lernen hat den Effekt, dass das Fernsehen am Ende besser dasteht als vorher: als ein unglaublich interessantes Medium, als ein Fenster zur Welt, die manchmal voller Gewalt ist. Medienkompetenz hat nicht das Ziel, sich am Ende des Tages fernsehfrei zu setzen, sondern sie schafft die Möglichkeit, sich des Fernsehens auf angemessene und auf angenehme Weise zu bedienen, die Bilder zu verstehen und zu nutzen. 

 

 7.

Ich habe mich bis jetzt überwiegend auf Fernsehen bezogen. Doch die Gewaltdebatte, wie sie nach der Bluttat von Erfurt wieder in Gang gekommen ist, verlangt geradezu danach, dass man sie nicht medienspezifisch führt. Nicht einmal so, dass man die Medien insgesamt aufruft und abarbeitet. Erlauben Sie mir daher zum Schluss, auch als eine Art von Zusammenfassung, noch einige Bemerkungen, die den Sachverhalt in einen etwas größeren Kontext einfügen. Sie schließen explizit auch die Lücke zum Stichwort Medienethik. Rang und Rolle von Gewalt, von Aggression sind ein zentrales Thema, wenn es um Kultur und Zivilisation, wenn es um eine mit der Vorstellung von der Würde des Menschen verbundene Anthropologie, um ein bestimmtes Menschenbild geht. Man verfehlt diese Einsicht, wenn man die Debatte nur dann führt, wenn man dazu gezwungen wird. 

 

Theologen wie Augustin oder Albert Schweitzer, Philosophen wie Hobbes, Hegel oder Nietzsche, Soziologen wie Durkheim oder Weber, Kulturtheoretiker wie Freud oder Foucault beschäftigen sich mit Gewalt und sind je auf ihre Weise auch der Frage nach dem Ursprung, der Faszination und der Unausrottbarkeit der Gewalt nachgegangen. Dieser Platz der Gewalt im Denken und Handeln bedeutet: Immer schon war und ist Gewalt im Maß ihrer "Bedeutung" für menschliches Leben und Zusammenleben ein Inhalt der Medien. Sie spielt eine wichtige Rolle in den großen Mythen und Erzählungen der Menschheit, von den Dichtungen Homers und den Texten des Alten Testaments bis zu Grimms Märchen und den Filmen von Francis C. Coppola oder Martin Scorsese, von den Dramen des Aischylos bis zu den Gedichten von Paul Celan.

 

Insoweit ist Gewalt im engeren Sinne auch immer schon ein Gegenstand der Medienkritik. Sie führt jedoch darüber weit hinaus. Es ist unverkennbar, dass die besonders wirksamen Entwürfe für eine moderne, zeitgemäße Ethik sich in ihren Zweckvorstellungen fast immer auf eine Erhaltung der Ordnung beziehen –, Ordnung im Sinne des kosmos, als Gegenentwurf gegen Gewalt und Aggression, Chaos und Barbarei. Erinnern Sie sich an Hobbes Leviathan und seinen Gedanken vom Staat. John Bentham bemüht sich um eine "Minderung des Leidens", oder, positiv gewendet, um das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl. Arthur Schopenhauer konzentriert seinen Entwurf auf den "Willen zur Selbsterhaltung", Albert Schweitzer postuliert die "Ehrfurcht vor dem Leben", Richard Rorty das Prinzip der liberalen Ironikerin, die "Verringerung der Grausamkeit".

 

Jede Diskussion über Gewalt in der Gesellschaft, zu der immer auch die Diskussion über Gewalt in den Medien gehört hat und gehört, ist im Sinne dieses Zusammenhangs mit einer Ethik eine Diskussion über die gesellschaftlich erwünschten, über die zeitgemäßen ethischen Standards, über universale Ideale. Der Stellenwert der Gewalt in einer Gesellschaft und der Stellenwert in ihren Medien gibt über medienethische Fragestellungen hinaus auch Auskunft über die herrschenden minima moralia. Die öffentliche Besprechung dieses Zusammenhangs ist ein wesentlicher Teil einer Wertediskussion. Auch deshalb darf man die Diskussion über die Ursachen von Gewalt, so verständlich dies im Anblick von unerklärbarer Grausamkeit auch sein mag, nicht durch voreilige Schlussfolgerungen oder unbeweisbare Schuldzuweisungen verdunkeln. 

 

Und schließlich: Der Bezug der Gewalt zum "Bösen" verweist auch darauf, dass es immer wieder auch Grenzen für den Willen gibt, individuelle und auch kollektiv ausgeübte Gewalt zu erklären. Wenn das Böse ein "blinder Fleck in der Gesellschaft" (Liessmann) ist, muss man hinnehmen, dass Erklärungen und Aufklärung immer wieder an diese Grenzen des Unverfügbaren und Unerklärbaren stößt. So verständlich der Versuch ist, die Lücke in der Erklärung umgehend mit Vermutungen oder gar Schuldzuweisungen an einzelne gesellschaftliche Institutionen und Agenturen zu schließen, um damit das Unerklärbare zu beseitigen und insgesamt zu beruhigen, so wichtig ist es, dieser Versuchung nicht auf Dauer zu erliegen. 

 

Die Gewaltdebatte neigt dazu, ritualisiert abzulaufen. Nach großer Empörung und schneller Erklärung verläuft sich das Thema, nach populistischen Instrumentalisierungen verliert es an Interesse. Bis es wieder einen Anlass gibt. Es wird interessant sein zu beobachten, ob der 11. September, ob das Datum Erfurt dieses Ritual auflösen.

 

 

 

Dr. Norbert Schneider

ehem. Direktor der Landesanstalt für Medien NRW, Düsseldorf, www.lfm-nrw.de

 

Siehe auch:

 Gewalt in unserer Gesellschaft - Hat sie eine neue Dimension erreicht?

 

 

 

 

 

© Christa Tamara Kaul